Endlich war es soweit! Ich wollte es nun endlich
wissen. Mein erster Marathon stand am 12. Oktober auf dem Programm. Es
sollte München sein, weil meine Familie zugesichert hatte, dort anwesend
zu sein und mich anzufeuern.
Die Vorbereitung lief nach Plan (Steffny/Grüning, wie
fast jeder Neuling) und nahezu Problemlos. Knapp 600 Kilometer hatte ich
in 12 Wochen absolviert, da sollten doch jetzt die letzten 42 auch noch zu
schaffen sein.
Um Punkt 9:50 war ich im grünen, dem zweiten,
Startblock. Ich hatte mir vorgenommen, in 3:45:00 anzukommen. Ein hohes
Ziel, aber ich war mir meiner Sache ziemlich sicher. Nach den letzten
Trainingsläufen auch keineswegs zu optimistisch, dachte ich. Sollte ich
mein Ziel korrigieren müssen, dann schlimmstenfalls auf 3:59:59.
Dann der erste Startschuss, pünktlich um 10 Uhr durfte
der erste (schnellste) Block starten. Den zweiten Startblock ließ man
allerdings 10 Minuten stehen. Unmut machte sich breit. Aber damit sollte
das Organisationschaos noch nicht beendet sein. Endlich um 10:10 Uhr ging
es auch für uns los. Allerdings war nach wenigen Metern bereits der erste
Boxenstopp angesagt. Reihenweise liefen die ersten rechts raus und mussten
eine Pinkelpause einlegen. „Unnötig wie nur was“, schimpften viele. Mein
Zugläufer war nun erst einmal weit weg. Als dann auch noch meine Uhr
ausflippte (ein Strich der Digitalanzeige blinkte so, wie es ihr gerade
gefiel), war der erste Frust riesengroß. Nach knapp 3 Kilometern hatte ich
meinen Laufrhythmus gefunden und konnte nun entspannt dem Lauf
entgegensehen. Ein Freund von mir war in Berlin mit einer Taktik
angekommen, die ich mir auch für diesen Lauf vorgestellt hatte: Bis zum
Halbmarathon in 5:25 min/km, dann Tempo forcieren auf 5:15 min/km.
Ausgerüstet war ich mit etwa einem Liter Wasser in
meinem „Patronengurt“ (4 Flaschen-System) und 4 Gels, wovon eines bereits
kurz vor dem Start vernichtet wurde. Man hatte mir geraten, alle 10
Kilometer eines einzunehmen. Meine Verwandten waren verantwortlich, dass
ich an zwei Stellen mit einem speziellen Elo-Getränk versorgt wurde. Mein
mitgeführtes Wasser wollte ich nur im absoluten Notfall angreifen,
ansonsten verließ ich mich auf die Versorgungsstellen, die alle 2,5
Kilometer aufgestellt waren. Die letzte Motivationshilfe sollte mir noch
ein Bekannter geben, der die letzten 3 Kilometer mitlaufen sollte.
Kurzfristig habe ich ihm dann aber doch abgeraten, da ich der Meinung war,
dass es nicht nötig sei. Wenn ich es bis dahin geschafft hätte, würde ich
den Rest auch noch hinkriegen.
Nach 5 Kilometern wunderte ich mich über das sehr
zurückhaltende Münchner Publikum. Von Euphorie war da eigentlich nix zu
merken. Noch dazu an einer Stelle, die man zwar zweimal passierte, aber
dann erst wieder in ein paar Stunden. Am lautesten waren die Anhänger der
jeweiligen Läufer.
Nach ungefähr 8 Kilometern verlor ich plötzlich die
Orientierung. Ich war der Meinung, dass wir erst viel später abbiegen
sollten, aber egal. Ich war nun wieder bis auf wenige Meter an einen
Zugläufer herangekommen, war mir aber nicht sicher, ob es der 3:45 oder
4:00 Stunden Pacemaker war. Ein älterer Schwabe wusste ebenfalls nicht,
wem er da eigentlich folgte. Der Ballon war so ungünstig platziert, dass
wir nur die 3 und die 59 sahen. Ich wechselte ein paar Worte mit ihm.
München ist sein zweiter Marathon und diesmal wollte er unter 4 Stunden
bleiben. Sein erster in Hamburg geriet zum Ende hin völlig außer
Kontrolle, für die letzten 2 Kilometer benötigte er 15 Minuten.
Hoffentlich geht es mir heute anders, dachte ich. Nachdem wir
feststellten, dass es eher meine Zielzeit war, die der Pacemaker auf dem
Ballon stehen hatte, ließ er sich wieder etwas zurückfallen. Bei Kilometer
10 probierte ich erstmals den Iso-Drink. Es schmeckte mir nicht
sonderlich. Vielleicht ändert sich das ja noch, wenn der Durst voll
zuschlägt, aber soweit wollte ich es gar nicht kommen lassen. Kurz vor
Kilometer 12 bogen wir wieder in die in die Ludwigstraße ein und näherten
uns dem Odeonsplatz. Jetzt hieß es, Augen offen halten, denn hier irgendwo
wollten meine Verwandten (Tante, Cousinen, Ehefrau) auf mich warten.
Besonderes Kennzeichen: ein grasgrüner Regenschirm! Gottseidank regnete es
nicht (mehr). Von weitem schon konnte man den riesigen Schirm sehen. Ich
konnte in aller Ruhe die Straßenseite wechseln und mich langsam darauf zu
bewegen. Eine meiner Cousinen hatte den Drink bereits fertig gemixt und
hielt ihn mir hin. Mit einem lauten „Danke“ rannte ich weiter. Der Freund
meiner anderen Cousine lief ein paar Meter neben mir her und machte in
paar Bilder von mir. Er versorgte mich mit Informationen, wer als erster
hier durchlief. Weiter ging es zum Marienplatz. Hier war die Stimmung, wie
übrigens auch auf dem Odeonsplatz, exzellent! Das letzte Mal als ich auf
dem Marienplatz war, kam er mir allerdings deutlich größer vor. Gut, das
war zwar schon vor 10 Jahren, aber dass man ihn derart zugebaut hatte...?
Ich hatte also noch soviel Spaß am laufen, dass mir solche Details
auffielen.
Als wir den Innenstadtbereich verließen, ließ die
Stimmung allerdings ebenfalls sofort nach. Meinen Elo-Drink leerte ich
fast komplett. Die nächsten Kilometer verliefen sehr ruhig, sowohl was das
Läuferfeld anging, als auch meine eigene Physis. Die Gespräche verstummten
zusehends. Trotzdem schnappte ich einen interessanten Streit auf. Ein
Mainzer Läufer und ein Münchner stritten darum, wie gut bzw. unmotiviert
das jeweilige Publikum sei. Der Münchner hatte leider keine zwingende
Argumente. Denn wir waren nun zwischen Kilometer 18 und 20: weit entfernt
vom Innenstadtbereich, keine Sehenswürdigkeit und mit U-Bahnen nur schwer
zu erreichen. Dementsprechend wenig Publikum wurde angetroffen. Als ich
den Streckenplan vorher studiert habe, war mir klar, dass hier in etwa der
eigentliche Marathon beginnen dürfte. Es heißt zwar immer, dass er erst
bei Kilometer 30 anfängt, da aber ab hier kaum Zuschauer die Strecke
säumten, wurde es für viele schwer, sich motivieren zu lassen.
Die Halbmarathondistanz bewältigte ich in
hervorragenden 1:51. Mist, ich war viel zu schnell. Der Pacemaker war zwar
immer noch wenige Meter vor mir, aber das Grundtempo war meiner Berechnung
nach zu hoch. Ich hätte erst fünf Minuten später hier eintreffen dürfen.
Ich wollte auf den nächsten 10 Kilometern Geschwindigkeit rausnehmen, um
noch einen optimalen Schlusslauf zu absolvieren. Bei Kilometer 23 wurde es
wieder deutlich lauter an der Strecke. Hier sollte auch mein Anhang zum
zweiten Mal auf mich warten. Die nahe gelegene U-Bahnstation machte es
möglich. Tatsächlich sah ich schon aus 400 Meter Entfernung den grünen
Schirm. Wie ich nach dem Lauf erfahren sollte, nahmen auch viele Läufer
hier die Gelegenheit wahr, auszusteigen. Für mich bis dahin aber überhaupt
kein Thema. Ich fühlte mich frisch und fit. Zwei Gels hatte ich
mittlerweile auch geleert und jetzt wollte ich mit Elektrolyten
nachspülen. Die Muskulatur war noch geschmeidig – ein Dank an eine weitere
Bekannte, die mir noch zwei Tage vorher die Beine massierte.
Weiter ging es unaufhaltsam auf Kilometer 30 zu.
Während des Trainings schafft man es selten, länger als 3 Stunden zu
laufen, bzw. die 30 Kilometer-Marke zu knacken. Ich hatte trotzdem keine
Furcht davor.
Dann jedoch das unerwartete. Ich hatte die
Halbliterflasche zu einem Viertel geleert und war mir sicher, diese noch
ein paar Meter mit mir herumtragen zu können, als mein Magen zu gluckern
begann. Ich bremste meine Geschwindigkeit weiter ab. Etwa einen Kilometer
lang ging es so weiter. Ich wusste, was das heißt. Man hat es oft gelesen:
Jetzt hast Du es übertrieben. Hör mit dem Trinken auf! Ich verspürte zwar
noch keinen Durst, fürchtete aber den Moment, wenn es soweit ist. Denn
dann ist es bereits meist zu spät.
Es half nichts. Ich musste meine Flasche entsorgen, da
es keinen Sinn machte, unnötig Gepäck mitzuschleppen, und das Getränk
hätte innerhalb von 45 Minuten verbraucht werden müssen. Also weg damit.
Nach etwa 3 Kilometern hörte endlich das Gluckern auf, dafür setzten jetzt
leichte Bauschschmerzen ein. Nur keine Panik, war mein Gedanke. Ich
versuchte flacher zu atmen und wieder ökonomischer zu laufen. Langsam
bekam ich meine Schmerzen unter Kontrolle. Wir bogen in den Englischen
Garten ein. Vorher hatte ich diesen Abschnitt als die Grüne Hölle
bezeichnet. Hier erwartete uns Kilometer 30. Wer es bis jetzt noch nicht
gemerkt hatte, wusste es hier ganz genau: Der Marathon hat begonnen. Und
genau da erwischte es jetzt auch mich! Nach der Versorgungsstation bei
eben diesem Kilometer war es mit dem Zuschauerzuspruch vorbei. Vereinzelt
traf man zwar noch auf ein paar Interessierte, aber im großen und ganzen
bleib man unter sich. Ein Läufer fragte ziemlich unsicher, ob wir hier
überhaupt noch richtig sind, oder ob wir uns verlaufen hätten. Ich legte
eine Gehpause ein. Merkwürdigerweise hatte ich überhaupt keine Schmerzen,
die ich als Grund vorschieben konnte. Ich war einfach körperlich
ausgelaugt. Nach etwa 300 Metern trabte ich langsam wieder an. Der
Pacemaker war natürlich über alle Berge. Jetzt hieß es für mich nur noch:
ankommen, egal wie. Nach einem weiteren Kilometer wechselte ich wieder in
eine Gehpause. Gegenüber sah man die Läufer, die nun bereits wieder
zurückliefen. Ich fluchte vor mich hin, feuerte mich selbst an. Ich wollte
ins Olympiastadion einlaufen, egal wie! Durchhalten bis zum Schluss.
Kurz vor der Nordspitze, war noch einmal eine
Zeitmessung installiert worden. Damit wurde den Leuten der Spaß genommen,
abzukürzen und sich so ein paar Meter zu schenken – und davon habe ich
leider zu viele gesehen! Soviel Courage sollte man eigentlich erwarten
können, von Erwachsenen Männern und Frauen. Niemand wird ausgelacht, weil
er den Marathon nicht schafft, solche Aktionen sind aber ein Faustschlag
ins Gesicht für jeden ambitionierten Hobbyläufer, der diese Distanz
bewältigt.
Ich legte nun jeden Kilometer ein paar Meter Gehpause
ein. Hier half mir nun mein eigenes Trinksystem. Mein letztes Gel ließ ich
in meiner Tasche, da mir das nun auch nicht mehr helfen würde. Ich
passierte Kilometer 36 und verließ nun den Englischen Garten. Hier waren
wieder deutlich mehr Zuschauer anwesend. Zum erstenmal vernahm ich auch
angenehme Musik aus einer Stereoanlage. Vorher, etwa bei Kilometer 21
wurden wir zwar auch mit Musik beschallt, ich möchte aber lieber nicht
wiedergeben, welche Musikrichtung uns hier „weiterhelfen“ sollte. Trotzdem
vielen Dank!
Ab Kilometer 37 verzichtete ich auf die Gehpausen und
lief nur noch. Ein erfahrener Marathoni hatte mir vorher gesagt, dass du
ab diesem Streckenabschnitt keine Schmerzen mehr spürst und das Gehirn nur
noch wenig wahrnimmt. Abgesehen davon, dass ich keine Schmerzen hatte,
stimmte der zweite Teil. Ich dachte einfach gar nichts mehr. Ich
registrierte auch gar nicht mehr, was sich am Streckenrand abspielte. Ich
wartete nur noch auf das nächste Kilometerschild. Als wir bei Kilometer 40
in den Olympiapark einbogen, rief jemand neben mir meinen Namen. Mein
Bekannter, den ich vorher fragte, ob er dort noch auf mich warten könnte.
Er hatte sich mit dem Fahrrad positioniert und begleitete mich noch ein
paar Meter. Er spornte mich an, durchzuhalten. Er feuerte mich an,
munterte mich auf, zog mich noch einmal mit – Vielen Dank, Manfred! Die
letzten Meter durch den Discotunnel sollte ich auf jeden Fall genießen,
rief er mir noch hinterher. Dann bog ich ins Marathontor ein. Diese Gefühl
war es wert, in München zu laufen. Als ich zusammen mit ein paar anderen
Läufern auf die Tartanbahn kam, brandete weiterer Jubel auf. In der
Nordkurve, wo sonst nur Fußball-Fans stehen, brüllte meine Familie meinen
Namen. Es war ein unglaubliches Szenario! Dann nach Netto genau 4:00:53
Stunden überquerte ich die Ziellinie. Gedanklich völlig leer, doch höchst
zufrieden, glücklich. Der Runners high hatte mich bei Kilometer 36 gepackt
und bis ins Ziel nicht mehr losgelassen. Den letzten Adrenalinkick bekam
ich dann im Discotunnel.
Müde, kraftlos und völlig am Ende schleppte ich mich zu
den Getränkeständen. Ich hätte jetzt am liebsten einen ganzen Liter von
dem Iso-Drink in mich hineinschütten mögen. Aber die größte Anstrengung
sollte noch kommen. Erst musste man über ein Treppengerüst die Laufbahn
überqueren, dann die Tribünen hochsteigen, um aus dem Stadion Innenraum zu
kommen. Viele Läufer waren der Meinung, dass man das im nächsten Jahr
ändern müsse.
Mit meinem Lauf und dem Ergebnis bin ich absolut
zufrieden. Die Randbedingungen (z. T. Publikum, Start und
Zielorganisation) müssen noch verbessert werden.
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