Groß – größer – Chicago-Marathon
Schon seit Jahren zählt der Chicago-Marathon zu den „Big Five“ der
Welt. Mit Boston und New York bildet er das Triumvirat der bedeutendsten
US-Marathons. Die ungebrochene Attraktivität dieses Laufs zeigt sich auch
daran, dass die 40.000 Startplätze für die 28. Austragung am 9. Oktober
2005 schon viele Wochen vor dem Start ausgebucht waren. Der gute Ruf des
Laufs – schnelle Strecke, Top-Organisation, hoher Zuschauerzuspruch -
waren für mich ausschlaggebend, 10 Stunden Flug und 7 Stunden
Zeitverschiebung auf mich zu nehmen und mich bei meinem ersten
außereuropäischen Marathon für Chicago zu entscheiden.
Schon die Marathonmesse am Freitag und Samstag vor dem Lauf machte
deutlich, dass „think big“ das bestimmende Motto der Veranstaltung ist. In
einer gewaltigen Halle des McCormick-Messezentrums in Chicagos Süden waren
die Messestände typisch amerikanisch äußerst großzügig verteilt. Ohne
Wartezeiten bekam ich meine Startunterlagen und das „goodie bag“ mit dem
diesjährigen Marathonshirt. Über dessen Motiv hatte man im Internet schon
vorher mit abstimmen dürfen. Nicht nur in der großzügigen Raumbelegung
unterschied sich die Messe vom in Europa üblichen: So gab es eine eigene
Gasse speziell für die „curb crew“, die zuschauenden Unterstützer der
Läufer, in der sich diese mit allen möglichen (und unmöglichen )
Utensilien für ein möglichst effektives Anfeuern - sei es optisch oder
akustisch - eindecken konnten. Großen Raum nahm auch die Präsentation der
zahlreichen Charity- und Sponsoringpartner ein; VW etwa hatte ein halbes
Autohaus aufgefahren. Großer Beliebtheit erfreute sich das umfangreiche
Merchandising-Sortiment. Ach ja: Laufutensilien konnte man so nebenbei
auch erwerben, aber im Vergleich etwa zur Messe des Berlin-Marathon war
das Angebot quantitativ eher mager. Dafür gab es umso mehr Gelegenheit,
Energy-Riegel und -Drinks bis zum Schlechtwerden zu testen. Bereits auf
der Messe konnte man sich für eine Vielzahl von Zielzeiten (bis 3:00) in
Pace-Gruppen registrieren lassen. Dafür bekam man eine zusätzliche Marke
mit der angestrebten Zielzeit zum Anheften am Laufshirt sowie eine
„Marsch-Tabelle“ für das Handgelenk; zudem bestand Gelegenheit, die
Zugläufer vorab persönlich kennen zu lernen.
Schon an den beiden Tagen vor dem Lauf konnte man beobachten, wie auf
dem Startgelände im Grant Park, der die Hochhausskyline der zentralen
Downtown von den Ufern des Michigansees trennte, eine weitläufige
Zeltstadt entstand. Dreh- und Angelpunkt war die monströs-kitschige
Brunnenanlage der Buckingham Fountain, bei der die Amis in Ihrer ureigenen
Art Versailles „interpretiert“ hatten. Auf der Startstraße, dem den Park
vielspurig durchschneidenden Columbus Drive , fuhren noch die Autos - aber
die Tribünen und Gitter standen schon in Lauerstellung. Auch wenn viel
Platz war, war dennoch schwer für mich vorstellbar, dass sich hier am
Sonntag Zigtausende Menschen sammeln sollten.
Die Vorstellung wurde von der Realität schon bald eingeholt: Bereits in
der Dunkelheit des frühen Sonntagmorgens eilten Menschenströme aus allen
Richtungen dem Startgelände entgegen. Auch ohne die mit den
Startunterlagen ausgegebenen Lagepläne und trotz des Trubels war die
Orientierung kein Problem. Die Abgabe des Kleiderbeutels am „Gear Check“
war eine Sache von Sekunden. In der Luft flatternde verschieden farbige
Ballone wiesen die Marschroute zum richtigen Startblock – wobei es da nur
wenig Alternativen gab. Denn hinter dem Elitebereich an der Spitze gab es
nur einen Block für die „competitive starters“ mit einer nachgewiesenen
früheren Laufzeit zwischen 2:45 und 3:15 und den Block für die „preferred
starters“ mit einer Zeit im Korridor von 3:15 bis 3:45. Alle anderen – und
das war der weitaus größte Teil der Läufer - mussten sich im
anschließenden „open seeded“-Bereich einordnen. Die Läufer im offenen
Bereich hatten den Vorteil, dass Ihnen eine gewaltige Batterie von
Mobiltoiletten zur Verfügung stand, während sich bei den vergleichsweise
wenigen stillen Örtlein beim Zugang zu den vorderen Blocks nicht minder
beeindruckende Schlangen bildeten. Aber die Leute waren gut drauf und
ausgesprochen diszipliniert; interessant zu beobachten war, dass anders
als z.B. in Berlin, wo der Tiergarten zum großen Freiluftklo mutiert, hier
niemand hinter den Büschen schnell mal Erleichterung suchte.
Beim Zugang zu den eingezäunten vorderen Blocks wurde genau
kontrolliert, ob die Startnummer die richtige Farbe hatte - aber, wie
schon angedeutet: Die disziplinierten Amerikaner neigten ohnehin nicht zum
schummeln oder drängeln. Die Stimmung auf dem von Läufern dicht
bevölkerten Columbus Drive war sehr entspannt. Für einen Moment tauchte
die Morgensonne glühend am östlichen Horizont auf und tauchte die Spitzen
der Wolkenkratzer in ein tiefes Rot – eine grandiose Szenerie. Aus
läuferischer Sicht nicht unglücklich war ich allerdings, dass die Sonne
alsbald wieder hinter dicken Wolken verschwand.
Um Punkt 8 Uhr war es soweit. Mit dem Startschuss setzten sich über
34.000 Läuferinnen und Läufer in Bewegung. Wie gewaltig die startende
Menschenmenge tatsächlich war, sah ich aber erst am nächsten Tag in einem
Luftbild in der Chicago Tribune. Die Breite der Straße ermöglichte ein
rasches Überqueren der Startlinie – vom „preferred block“ aus dauerte es
keine Minute.
Auf den ersten 5 km ging es zunächst in einer Schleife durch die
Häuserschluchten der Downtown, insbesondere des „Loop“, wie das durch die
scheppernde Hochbahn umrahmte Stadtzentrum genannt wird. Gleich drei Mal
war dabei der Chicago River zu queren. Die metallenen Brückenbeläge waren
zum Teil mit Teppich ausgelegt. Gerade von den Brücken boten sich
wunderbare Ausblicke auf die morgendliche Skyline mit Ihrem bunten Gemisch
aus Hochhäusern vieler Jahrzehnte. Faszinierend war, dass sich bereits um
diese frühe Zeit die Zuschauer in Massen entlang der Strecke aufgereiht
hatten und die Läufer frenetisch anfeuerten.
Nach 5 km ging es hinaus aus der Innenstadt und auf endlosen Geraden
hoch in den Norden der Stadt hinauf. Mustergültig wurden jeder einzelne
Kilometer und jede zurückgelegte Meile auf Tafeln angezeigt. Alle 5 km
waren Zeiterfassungsmatten ausgelegt und Digitaluhren verkündeten die seit
dem Startschuss zurückgelegte Zeit. Beeindruckend waren die beiderseits
der Straßen langgezogenen Verpflegungsstationen. Ganze Kompanien uniform
gekleideter Helfer standen alle 2, 5 km bereit und reichten lautstark
Wasser und Gatorade. Nur feste Nahrung, etwa Bananen, gab es auf der
ganzen Strecke kaum bzw. nur so wenig, dass man – wie erlebt - schon
vorbei war, ehe man es bemerkte. Allerdings ist das für mich nur einer der
ganz wenigen Kritikpunkte. - Auch musikalisch war einiges geboten: Grell
bunte Cheerleadergruppen (auch mal männlich), jede Menge Musikgruppen, vom
Kirchenchor bis zur Punkband, und Freiluftdiscos wechselten einander ab.
Und dann waren da natürlich noch die ganz normalen „Zuschauer“: Auch
Richtung Norden war der Läuferstrom nie allein, wobei sich an bestimmten
Plätzen und Straßenzügen die Menschen besonders sammelten und
Volksfeststimmung verbreiteten. 15 km – hin und zurück – dauerte der
Ausflug in den Norden Chicagos durch Viertel mit so wohlklingenden Namen
wie Old Town, Lincoln Park, Lakeview und Wrigleyville. Optisch hielt sich
die Attraktivität dieser Gegenden allerdings in Grenzen.
Nach 20 km war wieder die sehr viel interessantere Innenstadt erreicht
– und damit ein weiterer Höhepunkt in Sachen Zuschauerkulisse. Wo man auch
hinschaute: Entlang der Straßen, auf Brücken, aus den Fenstern quollen
förmlich die Menschenmassen, jubelten, tobten, schrieen und schufen einen
Hexenkessel, wie ich ihn noch nicht erlebt habe. Das war Gänsehautfeeling
pur. 1,2 Millionen Zuschauer sollen an der Strecke gewesen sein, las ich
hinterher in der Zeitung. Wie man eine solche Zahl ermittelt, ist mir zwar
nicht klar – aber zumindest gefühlsmäßig war der Andrang überwältigend.
Nach der Halbmarathonmarke ging es weiter auf den großzügig breiten
Straßen, km um km zumeist schnurgerade hinein in die Weite der
zentrumsnahen Stadtbezirke, zunächst gen Westen, dann weiter in den Süden.
Beim Dahintraben auf den nicht enden wollenden Geraden fast ohne jegliche
Höhenunterschiede wurde deutlich, warum Chicago als eine der schnellsten
Marathonstrecken der Welt gilt. Leider hatte ich mich von der euphorischen
Stimmung entlang der Strecke allzu sehr anstecken und schon auf der ersten
Hälfte zu einem unvernünftig hohen Tempo hinreißen lassen – hier musste
ich das nun zunehmend büßen und war für das, was sich um mich herum
abspielte, nurmehr eingeschränkt empfänglich. Andererseits: Viel zu sehen
gab es ohnehin nicht. In Ihrer weitgehenden Gesichtslosigkeit war die
extensive Stadtbebauung Chicagos außerhalb des Zentrums auch nicht anders
als in anderen amerikanischen Großstädten. Abwechslung bot sich in der
zweiten Streckenhälfte vor allem dort, wo ethnische Minderheiten ihre
zentralen Siedlungsgebiete hatten, etwa die Italiener im Bereich der
Taylor Street um km 28 und vor allem im farbenfrohen Chinatown bei km 35.
Besonders hier drängte sich auch das Publikum am Straßenrand und machte
lautstark Stimmung.
Bei km 38 erreichte ich mit der Michigan Avenue jene Straße, die
nördlich des Loop als „Magnificent Mile“ die noble Hauptgeschäftsstraße
Chicagos bildet. Für mich war im Moment jedoch viel wichtiger, dass es
nunmehr nur noch Richtung Norden, dem Ziel zu Füßen der Skyline am
Horizont entgegen ging. Ein letzter Schlenker unweit des Ziels führte
wieder auf den Columbus Drive. Die lange Zielgerade war gesäumt von
Zuschauertribünen und noch ein letztes Mal durfte ich jenes phantastische
Publikum erleben, das die Läufer johlend und klatschend zum Endspurt
anpeitschte.
Auch der Zieleinlauf war perfekt organisiert. Jeder Läufer wurde gleich
nach dem Passieren der Ziellinie in eine Wärmefolie gepackt, auch wenn
dies angesichts des zwischenzeitlichen Sonnenscheins überflüssig erschien,
aufmerksame Sanitäter sprachen sofort jeden an, der etwas wackelig auf den
Beinen schien – und das waren eine ganze Menge. Mit einem freundlichen
Lächeln und Glückwünschen wurden die Läufer sodann zur Medaillenübergabe
empfangen. In der anschließenden Versorgungszone wurden Getränke und Obst
in geradezu erschlagenden Mengen bereit gehalten. Wer es brauchte, konnte
sich auch mit einem „Bud“ erfrischen.
Nur 2:07:02 hatte der kenianische Sieger Felix Limo gebraucht, den
Parcours in Chicago zu bewältigen – aber gefeiert wurden auch alle
diejenigen, die noch Stunden danach eintrudelten. 6,5 Stunden lang, länger
als bei den meisten europäischen Marathons, war das Ziel geöffnet. Und
deutlich über 33.000 Menschen erreichten in dieser Zeit die Ziellinie.
Der Zieleinlauf markierte aber noch längst nicht das Ende des
Marathon-Events. Ab 18 Uhr waren alle Läufer – im Startgeld inbegriffen -
zur großen Post-Race-Party geladen. Und die fand standesgemäß im „Ballroom“
auf dem Navy Pier, einem in den Michigansee hineinragenden
Vergnügungspark, statt. Wie auch schon zur Marathonmesse stand hierfür ein
kostenloser Shuttleservice bereit. Der „Ballroom“ entpuppte sich als ein
gewaltiges Tonnengewölbe mit Platz für mehrere tausend Besucher – und der
Andrang war entsprechend. An mehr als einem Dutzend Essensständen und
Garküchen konnte ein jeder seine geleerten Kohlenhydratspeicher auffüllen
und bei Live-Musik, Bier, Sekt u.a. den Erfolg ausgiebig feiern.
Fazit:
Der Chicago Marathon hat erneut seinem (guten) Ruf alle Ehre gemacht.
Wer Marathon-Großveranstaltungen mag, schnelle Strecken liebt und
mitreißende Zuschauermassen erleben will, der sollte sich Chicago nicht
entgehen lassen. Hinzu kommt eine hervorragende Organisation, die für das
Startgeld einiges bietet. Und nicht zuletzt ist Chicago auch als Stadt
durchaus eine Reise wert.
Für weitere Fragen stehe ich unter per
E-Mail
gerne zur Verfügung.
Links:
Offizielle Website des
Chicago Marathons
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