Laufen ist Leben! Oder ist Laufen doch nur Laufen? Vielleicht ist
Laufen leben im Laufschritt, also am Leben vorbei laufen!? Eine
wahre Begebenheit. Zugetragen an irgendeinem trüben, wolkenverhangenen
Samstag im Februar 2004 in einem Kuhkaff* mitten im tiefsten Bayern. (Es
war der 21. Februar, um genau zu sein, um 13.15 Uhr.)
Man stelle sich folgendes vor: Man läuft als Mitglied eines Rosenheimer
Laufvereins einmal im Jahr in einer Gruppe von mindestens acht Leuten von
Rosenheim nach Wasserburg. Dass aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen
und Motivationen der/die eine schneller unterwegs ist als die/der andere,
wird wohl schon immer so gewesen sein und ist (deshalb?) zu verstehen.
(Das heißt, ich kapier`s bis heute nicht.) Jedenfalls wird es auch dieses
Mal so praktiziert. Man weiß ja: Langsamer als das eigene Tempo zu laufen
strengt über die Maßen an und macht schwere Beine!? Ergo: Unsere
Läufergruppe zerlegt es während der 27 oder 28 Kilometer in ihre
Bestandteile.
Nun geschieht, was bereits vor etwa einem Jahr (Oder ist es gar schon
zwei Jahre her?) geschehen ist. Die Spitzengruppe rennt in Windeseile in
Kerschdorf am Haus der Mücken vorbei, und wie damals wird sie dabei
erspäht. (Kein Wunder, wenn man den ganzen Tag zum Fenster rausschaut
entgeht einem kaum etwas!) Ich also sofort die Evi informiert (Vor einem
Jahr, oder ist´s tatsächlich doch schon zwei ... Egal! Da war´s jedenfalls
genau umgekehrt.) und mit 99,9 %iger, ach was, mit 100 %iger Gewissheit
das baldige Folgen weiterer Rosenheimer angekündigt. Da sich im
Spitzenteam Anton Gröschl, x-facher Sieger des Bad Füssing-Marathon und
2003 gar zweiter beim Marathon von München, aufhielt, kann es noch etwas
dauern. So lasse ich also die Straße, welche vom einen Kilometer
entfernten Laiming alle Gäste unweigerlich in unser Nest führt, nicht mehr
aus den Augenwinkeln.
Plötzlich erblicke ich sie. Vier oder fünf Gestalten im Laufschritt
drüben in Laiming. Nun bleibt mir genügend Zeit, mir eine Jacke
überzuziehen, eine Halbe Wasser in ein Glas einzuschenken und dieses
zusammen mit einer Flasche Bier und noch einer Flasche Wasser mit nach
draußen zu nehmen. Schließlich sind die Rosenheimer ja schon etwa 22
Kilometer bis hierher unterwegs und wie fast alle Läufer, die ich kenne,
unwahrscheinlich durstig.
Ich platziere mich in unserem Garten unmittelbar an der Straße, über
die das kleine Völkchen gleich kommen wird. Die Getränke stelle ich gut
sichtbar auf einen Transformatorkasten direkt vor mich. Die Bierflasche
öffne ich – in weiser Voraussicht? – erstmal nicht. Der Öffner steckt ja
eh in meiner Hosentasche.
Die Spannung steigt! Ein Haus verdeckt nun meine Sicht auf die Läufer.
Wer würden die vier/fünf wohl sein, deren Gesichter ich aus der Ferne
nicht erkennen konnte. Auch um sie anhand ihres Laufstiels als mir bekannt
zu identifizieren, waren sie vorher zu weit weg.
Als ich in Kerschdorf schon einmal die Begegnung mit den Rosenheimern
hatte – damals erfuhr ich, dass deren Trip von Rosenheim nach Wasserburg
jährlich stattfindet –, war ich gerade auf dem Sprung, selbst zu haxln.
Ich musste nur noch meine Schuhe schnüren und den Mannen von der Mangfall
nachsausen. Ein schönes Stück hinter Spielberg hatte ich sie seinerzeit
eingeholt – total durchgeschwitzt, und das auf nicht mal drei Kilometer!
Sie rannten, als hätten sie was geklaut. Doch auch damals war diese
größere Gruppe nicht die schnellste, und auch nicht die langsamste. Unser
Freund Toni Gröschl war laut Auskunft seiner Kameraden eine ganze Ecke
voraus. Außerdem sollten noch zwei Männer folgen.
Ich lief bis ins Badria (Laut Werbung „Die bayerische Südsee“. Hätte
ich noch nie Fotos oder Fernsehberichte von der wirklichen Südsee gesehen,
brächten mich nach kennen lernen dieses Freizeitbades dort keine zehn
Dampfer hin.) mit, wo die Rosenheimer nach Schwimmbad-, Sauna- und
Gaststättenbesuch von ihren Partnern abgeholt wurden. Freundlich
verabschiedete ich mich von meinen Bekannten, machte kehrt und joggte den
Letzten entgegen. So ganz genau kann ich mich heute nicht mehr entsinnen,
wann ich auf die beiden traf. Ich weiß nur noch, dass ich wieder ziemlich
weit Richtung Heimat laufen musste. Die Gesichter dieser Zeitgenossen
(zwei alte Hasen aus der Szene) waren mir dann noch vertrauter als die der
anderen. In gemächlichem, aber nach dem vorausgegangenen Husarenritt für
mich sehr angenehmen Tempo, kam ich so ein zweites Mal zur Südsee für
Arme. Es war ein sehr schönes Läufchen damals. Ganz überraschend kam ich
an Begleitung, mit der ich noch kurz zuvor nie gerechnet hätte.
Wer würde also heute in der Verfolgergruppe mitmischen? Das Rätseln hat
ein Ende, als die vier um die Kurve in die Freihamer Straße einbiegen. Es
sind drei Frauen und ein Mann. Den Mann (ist ein älteres Semester) kenne
ich, zwar nicht namentlich, aber ich bilde mir ein, dass er wohl seit
Menschengedenken laufen muss. Jedenfalls steckt er mindestens ebenso lange
in Laufschuhen wie ich. Zwei der drei jungen Damen sagen mir nichts. Die
kleinere der drei allerdings – sie läuft auf der mir zugewandten Seite –
kenne ich sehr wohl. Ich nenne sie jetzt einfach mal Kathrin. Warum
ausgerechnet Kathrin? Naja, weil sie halt so heißt! Es ist eine
Vereinskollegin der Mücken. Wie wir startet sie bei Sportveranstaltungen
für die SG Katek Grassau. (Wann kommt das schon mal vor, dass sich mit
Ausnahme der Mücken Exoten wie die Grassauer in unser Dörfchen verirren?
Eventuell hat Kathrin ja in letzter Zeit sogar den Verein gewechselt und
ist jetzt bei Rosenheim oder sonst wo. Ist aber eh wurscht!)
Um die vier, die in diesem Moment bestimmt nicht mit mir rechnen, nicht
zu erschrecken, rufe ich schon aus sicherer Entfernung: „Kerschdorfer
Verpflegungsstand!“ Verdutzte Blicke der näher Kommenden treffen mich. Ich
grüße und biete meine Getränke lautstark feil. Lächeln beim schwachen
Geschlecht, nichtssagender Gesichtsausdruck beim Herrn der Schöpfung.
(Später bilde ich mir ein, dass ich in diesem Augenblick mehrfach etwas
vernommen habe was so ähnlich klang wie „Griaß di“, „Servus“, oder das
typisch urbayerische „Hallo“.) Kathrin steuert die verbleibenden Meter bis
zur Bierflasche mit weit ausgestreckten Händen direkt auf dieselbige zu.
Auf meine Frage „Und, megts was dringa?“ bekomme ich erwidert: „Naa,
dankscheen!“ Auch Kathrin hatte nur gescherzt. Sie nimmt ihre Hände wieder
herunter und setzt zusammen mit den anderen ihren Lauf mit unverminderter
Geschwindigkeit fort. Etwas verdattert schreie ich den Entschwindenden
noch nach: „Ees werds doch irgendwas dringa megn!“ Kathrin dreht sich
daraufhin kurz um, lacht und winkt mir zu. Schon sind die vier aus meinem
Sichtfeld entglitten.
Einen kurzen Moment starre ich noch ungläubig ins Leere. Da
durchfährt`s mich: Wenn das jemand aus der Nachbarschaft mitbekommen hat.
Das ganze war doch wirklich nicht mehr als eine Schneider-Tour zum
Gartenzaun, also ein Weg für die Katz. Ich stehe da, wie ein begossener
Pudel. Rasch nehme ich das Glas und die Flasche Wasser sowie die Halbe
Bier, immer noch ungeöffnet versteht sich, und eile zurück zum Haus. Am
Hauseck stehen Evi und ihre Schwester. Ich frage die beiden, ob sie das
denn eben mitbekommen hätten. Evi antwortet, wie ich es von ihr gewohnt
bin, mit einem knappen, nüchternen „Ijah“. Dieses Ja klingt, als wäre es
das natürlichste von der Welt gewesen, was sie da eben gesehen hat und mit
etwas anderem war doch eh nicht zu rechnen. Hat meine Frau den Glauben an
die Menschheit denn total verloren? Ich hoffe nicht! Wahrscheinlich bin
ich bloß zu blauäugig!?
„Garandierd ham de was zum Dringa dabei, wenn`s scho so weit laffa.“,
versuche ich zu begründen, warum mein aus dem Ärmel geschüttelter
Verpflegungsstand nicht angenommenen wurde. Vor der Haustür verweilen wir
noch einige Sekunden, da wir die Läufer jetzt nochmals kurz von hinten zu
sehen bekommen. Zumindest zu einem kleinen Teil bestätigt sich meine
Vermutung. „Schaugds hi! Wenigstns d`Kathrin had a Flaschn inam Girtl
dabei.“ So konnte ich also doch noch ein paar Zentimeter Boden auf Evi gut
machen.
Aber ging´s denn tatsächlich ums Trinken? Also mir jedenfalls nicht!
Ich hoffte, die Läufer würden einfach schnell mal anhalten, wenn sie auf
ihrem Weg einem Bekannten begegnen. Sonst hat man sich doch auch
irgendetwas zu sagen, wenn man sich trifft. Und manche aus unserer Gegend
treffe ich eh viel zu selten, seitdem ich die langen Strecken laufe. Warum
aber hielten die vier dann nicht an? Etwa, weil sie gerade liefen? Weil,
wenn man läuft, man eben laufen soll, so wie wenn man isst, man eben essen
soll? Nein, denn beim Essen liest man doch auch schon mal die Zeitung oder
unterhält sich. Genauso isst und trinkt man auch während des Laufens und
ratscht mit seinen Kollegen.
Da fällt mir ein, wie´s bei mir war, als ich zu laufen anfing.
Zumindest bei meinen ersten Wettkämpfen (später gab´s dies garstig Wort
dann sowieso nicht mehr für mich) wäre es mir nie in den Sinn gekommen,
das heißt, ich sprach mich sogar dagegen aus, in Schwächephasen oder sonst
wann zu gehen, geschweige denn stehen zu bleiben. Sogar die Verpflegung
musste im Laufschritt gegriffen und verkonsumiert werden, wie sich das
eben für einen richtigen Läufer gehört. (Wie hab ich das denn damals
gleich wieder mit der Befriedigung kleinerer und größerer Bedürfnisse
gemacht?) Gott sei Dank, dass ich rechtzeitig drauf gekommen bin, dass man
einen Lauf auch dann Lauf nennen darf, wenn man sich unterwegs irgendwo
vertrödelt hat. Von den vier Rosenheimern verlangte ich ja nicht mal, dass
sie trödeln. Mit einigen freundlichen, meinetwegen sogar auch belanglosen
Worten wäre ich doch schon zufrieden gewesen. Schließlich haben wir ja
alle was gemeinsam. Uns verbindet die Lauferei. Da hat man immer
Gesprächsstoff.
Ist schon komisch: Da könnte ich, wenn ich so pauschal über meine
geliebte Freizeitbeschäftigung nachdenke, jeden Schwur darauf leisten,
dass Laufen locker macht. Erfahrungen wie die heutige zeigen mir dann
aber, dass ich mir so ganz rasch ein Verfahren wegen Meineid aufhalsen
könnte. Trainings- oder Just-for-fun-Läufchen wie das der Rosenheimer
werden unversehens zu Ausflügen mit festen Regeln. In Rosenheim ist Start,
in Wasserburg am Badria Ziel. Die Strecke ist so und so lang, dafür
brauchen wir so und so lange. Usw. usw. So ist natürlich einleuchtend,
dass man da nicht bereits fünf Kilometer vor dem Ziel schon stehen bleiben
kann. Obwohl, die Zeit hätte man ja raus stoppen können!? Wird ja beim
Gang ins Gebüsch auch von vielen gemacht.
Oje, wie weit haben wir´s denn schon gebracht!? Und schlimmer noch: Wo
soll das noch enden? Dem Wohlstandsmenschen reicht es offensichtlich
längst nicht mehr, Maschinen und Computer zu programmieren. Er selbst
rennt durch die Gegend, als wäre er ferngesteuert. Eingabe Start- und
Zielort, Berechnung der Wegstrecke und der dafür zur Verfügung stehenden
Zeit und schon geht´s ab. Ein Abweichen von der Route sowie ein unnötiges
überschreiten der Zeit sind undenkbar. Gefangene in sich selbst, diese
Läufer? Mensch Pumuckl, hast Du da noch Arbeit vor Dir!!!
Gerade vor einigen Tagen warf mir ein enttäuschter (ach, der Arme), mir
allerdings völlig unbekannter Läufer die Verletzung der Ehre der
Marathonläufer vor. Er beschränkte diese Ehre jedoch nur auf eine
Medaille, welche ich bei
ebay versteigerte. Weiter wollte oder konnte er
mir diese Ehre nicht erklären. Hoffentlich habe ich mit meinem
Verpflegungsstand nicht auch die Ehre der kleinen Rosenheimer Abordnung
verletzt!? Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ... Gar nicht so abwegig
diese Theorie. Schließlich habe ich die vier ja förmlich dazu genötigt,
stehen zu bleiben. Nein, nein! Nicht deswegen, weil ich da stand und gerne
mit ihnen ein Schwätzchen gehalten hätte. Vielmehr der Getränke wegen,
welche ich anbot; vor allem, wie ich sie kredenzte. Man stelle sich bloß
mal vor, man greift in vollem Lauf ein Wasserglas ... Was da so alles
passieren kann! Spätestens 15, 20 Meter weiter, wenn man daraus genippt
hat, gibt es Scherben – beim Wegwerfen! Auch Kathrin kann ich nun gut
verstehen. Hätte sie die verschlossene Bierflasche denn etwa unterwegs
aufmachen sollen? Dass sie, so wie ich, einen Öffner in der Tasche hatte,
wage ich dann doch zu bezweifeln. Und hätte sie das Ding wider Erwarten
doch aufgekriegt, ... Mit den Scherben hätte es sich genauso verhalten wie
beim Wasserglas.
So mache ich mir also heute schon Gedanken zu Verbesserungen, denn die
Rosenheimer werden auf jeden Fall wieder durch Kerschdorf rennen.
Spätestens im nächsten Jahr wird es soweit sein. Ich werde die Getränke
dann in Pappbechern ausschenken, einschließlich dem Bier. Das Zeug könnte
dann zwar wieder stehen bleiben und müsste von den Mücken aufgebraucht
werden, doch da mache ich mir gerade beim Bier weniger Sorgen.
Aber habe ich dann wirklich alles erreicht, was ich wollte? Nööh! Denn
wem geht´s schon ums Trinken? Mir immer noch nicht! Auch nächstes Jahr
nicht! Ich wollte diese Leute doch zum kurzen Verweilen hier bei uns in
Kerschdorf bringen. Doch selbst dafür gibt es bereits einen ausgeklügelten
Plan. Wenn ich die Getränke wie beschrieben auf dem Transformatorkasten
deponiert habe, lege ich mich direkt dahinter in unseren Garten und stelle
mich bewusstlos. Und dann bin ich mal gespannt, ob das nicht sogar einen
Läufer zum Bremsen bringt und ihn ins Leben zurück holt.
Dietmar Mücke
* Anmerkung der Redaktion: Der Autor hat nichts gegen Kühe!
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