Auf klassischen Pfaden – die 42,195 Km von Marathon nach Athen
Fast 2500 Jahre ist es her, dass athenische Truppen in der Ebene von
Marathon
im Nordosten der attischen Halbinsel das Heer der persischen
Invasoren bei der
Schlacht
von Marathon stoppten und zum Rückzug zwangen. Um diesen Sieg den
bange wartenden Bewohnern des Stadtstaats Athen zu verkünden, soll ein
athenischer Soldat namens
Pheidippides
flugs vom Schlachtfeld nach Athen geeilt und nach Überbringung seiner
Botschaft dahin geschieden sein. Eine tragisch-heroische Geschichte,
allerdings mit einem kleinen Haken – sie ist aller Wahrscheinlichkeit
nach eine bloße Legende. Aber das interessiert heute eigentlich
niemanden mehr wirklich.
Immerhin dauerte es knappe 2400 Jahre, ehe sich die Veranstalter der
ersten olympischen Spiele der Neuzeit um
Pierre de
Coubertin dieser Überlieferung besannen und im Jahre 1896 als
historische Reminiszenz an dieses Ereignis einen besonderen
Langstreckenlauf von Marathon nach Athen ins olympische Programm
aufnahmen. Allerdings maß dieser Lauf noch keine 40 Km. Weitere 12 Jahre
mussten dann noch vergehen, ehe der „Marathonlauf“ erstmals sein heute
„offiziell“ anerkanntes Maß von 42,195 Km erhielt - und das letztlich
nur aufgrund einer Laune des englischen Königshauses, das anlässlich der
Olympischen Spiele in London 1908 den Start partout von einem Fenster
ihres Schlosses in Windsor erleben wollte.
Und so kommt es, dass auf einer Strecke, die in der Antike wohl nie im
Laufschritt durchmessen wurde, über eine Distanz, die auf die
Bequemlichkeit eines neuzeitlichen Monarchen zurückzuführen ist, seit
1992 der klassischste aller Marathonklassiker ausgetragen wird: Der
„Athens Classic Marathon“ vom historischen Schlachtfeld bei Marathon in
die griechische Hauptstadt.
Lange Zeit schien es so, als ob die Veranstalter dieses Marathons
bestrebt waren, den Läufer von heute die Leiden des antiken Vorbilds
nochmals nacherleben zu lassen. Jedenfalls eilte dem Athener Marathon
der wenig schmeichelhafte Ruf besonders dürftiger Streckenversorgung und
auch sonst eher minimalistischer Organisation voraus. Allerdings kostete
die Teilnahme lange Zeit auch nichts.
Das hat sich seit ein paar Jahren entschieden geändert, wovon ich mich
bei der 24. Austragung am 5. November 2006 selbst überzeugen konnte. Für
den Start muss man nun zwar immerhin 70 € berappen, aber dafür bekommt
man schon im Vorfeld, neben einer gut gefüllten Startertüte (mit
T-Shirt, Rucksack, Handtuch und weiteren mehr oder weniger nützlichen
Devotionalien) eine Pasta-Party geboten, die Maßstäbe setzt: viererlei
Nudelgerichte, Salat- und Käsebuffet, Getränke, alles zur freien Auswahl
und soviel man will, lassen das Läuferherz höher schlagen. Einziger
Wermutstropfen: Das Ganze findet in einer für den Anlass
überdimensionierten, ehemals olympischen Halle in der städtischen
Peripherie statt, die man ab Stadtzentrum per Tram zwar gut, aber erst
nach einer Stunde erreichen kann. Auch würde die Ergänzung um eine
Läufermesse sicher zu einer weiteren Belebung beitragen.
Wer in Athen mitlaufen will, muss früh aufstehen. Denn zum Prozedere vor
dem Lauf gehört der kollektive Transport zum Start. Es ist noch
stockdunkel und bitterkalt, als ich um kurz nach sechs Uhr vor dem
zentral gelegenen
Panathenäischen Stadion eintreffe, dem späteren Ziel des Laufs. Hier
steht schon laut brummend eine Busflotte bereit, um die gut 2600
Teilnehmer zum Start zu chauffieren. Die Busse nehmen dabei genau den
Weg, der später laufend zurückzulegen ist. Nicht wenige werden dabei
erstmals mit der Tatsache konfrontiert, dass die Strecke durch hügeliges
Gelände führt und beträchtliche Anstiege bereit hält. Und so mancher
Seufzer verrät, dass dieser Umstand nicht nur Freude auslöst.
Die Sonne geht langsam auf, als mein Bus eine dreiviertel Stunde später
das anlässlich Olympia 2004 neu errichtete kleine Stadion der Ortschaft
Marathon erreicht. Ungern verlasse ich den warmen Bus, schleiche hinaus
in den eisigen Morgenwind mit Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt.
Im Umkleidebereich des Stadions herrscht drangvolle Enge, denn viele
wollen dieses einzig warme Plätzchen weit und breit nicht aufgeben.
Draußen kann man nur durch ständige Bewegung der Auskühlung entgehen.
Recht international wirkt die Läuferschar. Viele Franzosen und Deutsche,
aber auch überraschend viele US-Amerikaner mache ich im Sprachenwirrwarr
aus. Die 1 ½ Stunden bis zum Start vergehen dennoch recht schnell. Nach
feierlicher Ableistung eines marathonischen Eides fällt um 8.30 Uhr der
ersehnte Startschuss und entlässt den Läuferpulk auf das breite
Asphaltband der verkehrsgesperrten Schnellstraße zwischen Marathon und
Athen.
Über die Laufstrecke ist das Wesentliche schnell gesagt: Das Profil auf
den ersten 13 Km ist flach, danach geht es in ständigem Auf und Ab
dahin, bis bei Km 32 der Kulminationspunkt fast 240 m ü NN erreicht ist,
danach primär leicht bergab bis zum Ziel. Nur sporadisch führt die
Strecke durch Natur, es dominieren eher gesichtslose Ortschaften – etwa
Nea Makri, Rafina, Pekermi, Pellini – , die sich lang gestreckt,
bisweilen in einander übergehend die Straße entlang ziehen.
Für denjenigen, der den meditativen, entspannten Lauf auf einer schier
endlosen Geraden ohne besondere optische und akustische Reize liebt, ist
die Strecke wahrscheinlich das Höchste. Der Wind und das Getrappel der
Schuhe sind bisweilen das Einzige, was zu hören ist. Wer Stimmung an der
Strecke sucht, ist aber definitiv am falschen Ort. Nur vereinzelt und
distanziert beobachten Dorfbewohner das Treiben. Auch die zahlreich
entlang der Strecke in schmucker Uniform postierten Polizistinnen und
Polizisten führen nicht wirklich zur Belebung bei. Ganz und gar nicht
distanziert sehen den Läuferstrom nur die vielen Hunde, für die so etwas
wie Ausnahmezustand herrscht und die im Daueralarm laut bellend Haus und
Hof verteidigen.
Ein netter Exkurs erwartet uns bei Km 4: Von hier zweigt eine
Pendelstrecke zum historischen Grabhügel Marathons ab, der einmal zu
umrunden ist. Auf dem Hinweg habe ich Gelegenheit, die
schwarzafrikanische Spitze des Lauffeldes in Augenschein zu nehmen, auf
dem Rückweg die teilweise schon walkende Nachhut. Für Abwechslung sorgen
zudem die vielen Versorgungsstationen. Alle 2,5 Km geben engagierte
Helfer Wasser, alle 5 km zusätzlich Isogetränke, jeweils
verschwenderisch in Halbliterflaschen, aus. Verdursten muss hier
wahrlich niemand.
Trotz der Eintönigkeit der Strecke: mir gefällt der Lauf. So entspannt,
fern jeder Hektik, habe ich die Marathondistanz selten erlebt. So
erreiche ich ziemlich locker bei Km 35 die Stadtgrenze Athens.
Eigentlich hatte ich zumindest ab hier einen etwas steigenden
Zuschauerzuspruch erwartet. Aber weit gefehlt – Athen präsentiert sich
an diesem Sonntagvormittag fast wie eine Geisterstadt. Als ich endlich
Menschentrauben am Straßenrand erblicke, ist fast das 42 Km-Schild
erreicht.
Ein letzter Schlenker noch - und hinein geht es über eine schwarze
Tartanbahn zum Zieleinlauf ins wundervolle
Panathenäische Stadion. In klassischer Hufeisenform existiert dieses
Stadion bereits seit der Antike. Nach zwischenzeitlichem Verfall wurde
es anlässlich der olympischen Spiele von 1896 und 2004 stilgerecht
aufwändig restauriert. Von den langen, in der Sonne leuchtenden
Sitzreihen aus weißem Marmor, brandet uns Beifall entgegen, auch wenn
von den 50.000 Plätzen des Stadions letztlich nur ein kleiner Teil
belegt ist. Ein wundervoller Anblick, ein grandioses Finale. Und hier
endlich erahne ich auch jenen „Geist der Antike“, der auf dem Rest der
Strecke – zumindest für mich - nicht wirklich zu verspüren ist.
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