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26,2 Meilen Marathonparty – der Boston Marathon 2008
Er ist keineswegs der größte seiner Art (wenn auch einer der
„Großen“), der Streckenverlauf ist auch nicht unbedingt als spektakulär zu
bezeichnen und er ist zudem alles andere als bestzeitentauglich.
Dennoch gibt es wohl keinen Marathon, der in Läuferkreisen so viel Prestige und
Tradition vorzuweisen hat wie der Boston Marathon. Vor allem in den USA wird
dies deutlich, wo jeder Marathon, der etwas auf sich hält, sich als „Boston
Marathon Qualifier“ bezeichnet. Denn nach Boston darf grundsätzlich nicht jeder,
sondern nur, wer sich „qualifiziert“. Und die Qualifikationszeiten haben es in
sich – so etwa 3:15 in der M35 und 3:30 in der M45, erzielt in einem Marathon in
den letzten 19 Monaten vor dem Lauf. Europäer haben es allerdings etwas
leichter, denn die haben die Möglichkeit, auch ohne „Quali“ einen Startplatz zu
bekommen, wenn sie über einen Reiseveranstalter buchen und ein erhöhtes
Startgeld zahlen. Dass sich trotz der Zeithürde 2008 wieder gut 25.000
Läufer/innen aus aller Welt auf die limitierten Startplätze gestürzt haben,
spricht für sich.
Der Reiz des Elitären ist das eine, die Tradition das andere, was den
Boston-Marathon heraushebt. Seit 1897 wird der Boston Marathon ununterbrochen
ausgetragen, 2008 stand damit der 112. Lauf an – da kann weltweit kein anderer
Marathon auch nur ansatzweise mithalten. Diese Tradition wird von den
Veranstaltern sorgsam gepflegt und kultiviert. Zu ihr gehören der angestammte
Streckenverlauf vom ländlichen Hopkinton bis ins Zentrum der Metropole
Boston ebenso wie die
alljährliche Austragung am stets auf einen Montag fallenden Patriots Day, in
diesem Jahr am 21.04.2008, und das „corporate design“ der Veranstaltung, das
allgegenwärtige Blau-Gelb mit dem Einhornwappen der veranstaltenden Boston
Athletic Association.
Doch es sind auch noch andere Dinge, die dem Boston Marathon als Ruf
vorauseilen: eine hervorragende Organisation und ein feierfreudiges Publikum.
Für mich waren das jedenfalls genug Gründe, die lange Reise über den Atlantik
anzutreten, um erstmals der „Mutter aller Volksmarathons“ die Ehre zu erweisen,
zusätzlich motiviert durch den Umstand, als „Qualifikant“ auch ohne
Hintertürchen teilnehmen zu können.
Schon beim mittlerweile recht sicherheitsintensiven Einreiseprozedere in die USA
über den Logan Airport in Boston am Freitag Abend sind die Vorboten des
Ereignisses zu spüren: Die investigative Befragung des Immigration Officers
dreht sich fast ausschließlich um den Marathon (wie oft, wie schnell etc.) und
mit den besten Wünschen für ein erfolgreiches Finishing wird mir der weitere
Zutritt ins Land gewährt. Auf dem Weg in die Stadt künden zahllose Werbeplakate
vom anstehenden Lauffest.
Run auf die Marathonmesse
Gleich am nächsten Morgen drängt es mich zur ersten vormarathonischen
„Amtshandlung“: Dem Besuch der Marathonmesse. Drei Tage, von Freitag bis
Sonntag, hat man in Boston die Gelegenheit, dort seine Startunterlagen abzuholen
und sich dem Kaufrausch hinzugeben. Untergebracht ist die Messe im zentral nahe
dem Zieleinlauf des Marathons gelegenen und gut per Metro (Green Line)
erreichbaren Hynes Convention Center. Schilder dirigieren mich zur
toporganisierten Startnummernausgabe, wo ich ohne Wartezeit zunächst meine
Nummer selbst und anschließend - entsprechend der gewünschten Größe des
Marathonshirts - den mit Papier, Funktionsshirt und sonstigen „Gimmicks“
gefüllten Kleiderbeutel in Empfang nehmen kann. Praktisch ist, dass man in einem
Nebenraum vorher anprobieren kann, welche Größe im Bereich XXS bis XXXL die
individuell richtige ist.
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Nach der Pflicht ruft die Kür: Der Gang durch die Messe. In
zwei riesigen Hallen drängen sich die Verkaufstände mit Laufausrüstung aller Art
und Anbieter von running food and drinks und sonstigen mehr oder weniger
sinnvollen Dingen rund um das Laufen. Dank günstigem Dollarkurs und ohnehin
niedrigerer Bepreisung kosten Laufschuhe gerade mal die Hälfte von dem, was ich
in Deutschland üblicherweise anlegen muss – und so bin ich schnell um einige
Kreditkarten-Dollar erleichtert und eine mit Laufschuhen prall gefüllte Tüte
beschwert. So recht in Shoppinglaune kann ich auch nicht beim „2008 Boston
Marathoner“, der offiziellen Laufjacke der diesjährigen Veranstaltung, nein
sagen. Wie ich später feststelle, ist dieses chic in kobaltblau und schwarz
gestylte Teil anscheinend der große Verkaufsrenner. Zumindest füllen sich die
Straßen der Innenstadt immer mehr mit gleichgesinnten Jackenträgern. Hunger und
Durst muss auf der Messe auch niemand leiden: Energieriegel und -getränke aller
Art, Geschmack und Farbe kann man bis zum Schlechtwerden ausprobieren und
natürlich auch kaufen. War der Andrang am Vormittag noch überschaubar, so wird
das Gedränge im Laufe des Nachmittags immer ärger und ich ziehe es vor, mit
Laufkollege Steffen nach kurzem Zwischenstopp im Hotel ohne den Kaufballast dem
historischen Freedom Trail zu folgen und die entspannte Stimmung im
sonnendurchfluteten Boston Common, dem zentralen Stadtpark, zu genießen.
Pastaparty vom Feinsten
Ein weiteres vormarathonisches “Must” ist die große Pasta-Party am Sonntag von
16.30 bis 20 Uhr. Geladen ist in die City Hall, einem architektonisch durchaus
ausgefallen konstruierten grauen Betonmonster im zentralen Downtown, allerdings
mit dem Charme und auch optisch nicht ganz fern einer Hochgarage. Auch hier
gelingt es den Veranstaltern durch allerlei Tricks, trotz des Besucheransturms
Menschentrauben an Ein- und Ausgang zu vermeiden. So muss man, um zum Buffet im
Untergeschoss der City Hall zu kommen, erst einmal eine lange Schleife durch den
auf dem vorgelagerten Platz gastierenden Big Apple Circus drehen, wo ein paar
Artisten und Clowns für Kurzweil sorgen. Ohne jegliches Warten erreiche ich so
die Essensausgabe, wo bei lauter Discomusik super gelaunte Volunteers
Styroporschachteln je nach Wunsch mit einer oder mehreren der drei angebotenen
Nudelgerichte füllen und Salat füllen. Ein Stockwerk höher gibt es Getränke und
ausreichend Sitzgelegenheiten. Die tiefstehende Sonne durchleuchtet das nach
allen Seiten offen gebaute Stockwerk und taucht alles, selbst den Beton, in
warme Farben. Ich genieße die wohl beste Marathon-Pasta, die ich bisher erlebt
habe. Restaurantqualität hat die Lasagne mit feiner Zimtnote ebenso wie die
Rigatoni mit getrockneten Tomaten und frischem Basilikum - und Nachschlag gibt
es so viel man will. Länger als erwartet dauert dann allerdings der Abmarsch.
Vom Ausgang der City Hall um das Zirkuszelt herum wartet bereits eine lange
Menschenschlange - vor dem “Dessert-Zelt”. Entgehen lasse ich mir auch das
nicht. Der “Lohn” der Warterei ist, dass wir eine Plastiktüte nach Belieben mit
Chips- und Popcornbeuteln, Yoghurt, Obst und zu guter List mit Lindt(!)-Pralinen
befüllen dürfen. |
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Der lange Weg zum Marathonstart
Schon kurz vor 5 Uhr am Marathon-Montag klingelt der Wecker- fünf Stunden vor
dem offiziellen Marathonstart. Ein Stündlein lasse ich mir Zeit für all die
kleinen Dinge, die vor einem solchen Ereignis so anfallen. Punkt 6 Uhr steht der
Shuttle-Bus vor dem Hotel, der uns ins Stadtzentrum zur Tremont Street bringt,
von wo aus die zentrale Verladung der Teilnehmer zum Start in Hopkinton erfolgt.
Auch dieses Unterfangen ist ein Musterbeispiel für die ausgereifte Organisation
der Veranstaltung. Denn es gilt, von 6 bis 7.30 Uhr, also innerhalb von nur 1
1/2 Stunden, zwischen 20.000 und 25.000 Menschen in Schulbusse zu verfrachten.
Hochgerechnet bedarf es dafür zwischen 400 und 500 Bussen und so wundere ich
mich nicht, dass in den Nebenstraßen bereits eine gewaltige Armada jener
charakteristischen gelben altertümlichen Busse in Wartestellung steht. Jeweils
etwa 20 dieser Busse reihen sich in der Tremont Street hintereinander am
Straßenrand auf. Vor jedem Bus bildet sich eine lange Schlange, die schon bald
weit in den angrenzenden Stadtpark hineinreicht. Das funktioniert ohne jedes
Chaos. Das weitere Prozedere läuft so, dass alle in der Reihe jeweils wartenden
Busse gleichzeitig bis auf den letzten Platz besetzt werden und dann
gleichzeitig im Konvoi losfahren. Es rücken sodann sofort die nächsten 20 leeren
Busse nach und die nächste Besetzungsrunde läuft. Ich bin überrascht, wie
schnell ich einen Platz in einem Bus finde und kurz darauf über die Highways aus
der Stadt hinaus brause. Stets haben wir Vorfahrt - dafür sorgt schon die State
Police, die sich mit Blinklicht an neuralgischen Punkten, etwa den Mautstellen
des Highways, postiert hat. Etwa eine Dreiviertelstunde sind wir unterwegs durch
den trüben kalten Morgen, genug Zeit, um mir wieder einmal bewusst zu machen,
dass 42 km ganz schön weit sind und die Vorstellung, all das, was wir jetzt
hinaus fahren, - wenn auch auf einer anderen Strecke - zurück laufen zu müssen,
vermittelt mir schon ein etwas mulmiges Gefühl. Vom Highway geht es schließlich
über kleine, kurvige Sträßchen durch Wälder bis ins einsam verschlafene Dorf
Hopkinton mit seinen hübschen Holzhäuschen und akkuraten Vorgärten. Unser Ziel
ist das weite Gelände der Middle School am Ortsrand von Hopkinton, wo
traditionell das “Athletes Village” errichtet ist.
7.30 Uhr ist es erst - noch 2,5 Std. bis zum Start. Was tun? Das lange Warten
auf den Start ist wohl auch etwas Boston-typisches. Drei gigantische, offene
Zelte sind im “Village” aufgebaut, es werden Kaffee, Bagels, Bananen und Wasser
angeboten, der Wiesenrand ist gesäumt von einer schier endlosen Kette mobiler
“stiller Örtchen”, flotte Musik und Durchsagen schallen über das Gelände. Jeder
der vielen Tausend Läufer vertreibt sich die Zeit auf seine Weise. Viele machen
es sich auf ihren Jacken oder Plastikplanen auf dem Rasen unter dem Zeltdach
bequem, die “Kenner” haben besser isolierende Pappdeckel oder gar Luftmatratzen
dabei. Manche dösen, eng zusammen gekauert, vor sich hin, andere frühstücken,
die meisten pflegen den Small Talk mit Bekannten oder Unbekannten. Zunehmender
Beliebtheit erfreuen sich Besuche der Mobiltoiletten und entsprechend lang und
länger werden die Schlangen davor. Kaum jemand umgeht dabei das Warten aber
durch einen Ausflug in die Natur. Wie ich später erfahre, ist das auch nicht
unriskant: Von der Polizei ertappten “Wildbieslern” droht die Disqualifikation.
Nach wie vor ist es empfindlich kühl und ich zögere meinen Gang zu den
Gepäckabgabebussen so lange wie möglich hinaus, um mir die Wärme meiner Jacke
und langen Hose zu erhalten.
Um 9.15 Uhr hält mich allerdings nichts mehr im “Village”. Einen knappen
Kilometer muss ich von hier aus schnurgerade über die Grove Street, eine schmale
Wohnstraße, durch Hopkinton marschieren, ehe ich das eigentliche Startgelände
erreiche. Gleich am Anfang dieser Straße erwartet mich zunächst das schon
vertraute Bild zahloser hintereinander parkender Schulbusse, die dieses Mal
allerdings zum Zwecke der Gepäckabgabe bereit stehen. Je näher ich mich dem
Startgelände nähere, desto dichter wird der Trubel und größer wird die Hektik.
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Der Marathonstart findet in Hopkinton auf der Main Road bzw.
“Route 135" statt. Da diese Straße für einen gleichzeitigen Start von 25.000
Läufern zu schmal ist, wird der Start durch Teilung der Läufer in zwei Wellen
entzerrt - die erste “Wave” startet und 10 Uhr, die zweite um 10.30 Uhr. Wave 1
ist den aufgrund ihrer nachgewiesenen Qualifikationszeit schnelleren Läufern
vorbehalten; die Qualifikationszeit ist darüber hinaus für die Aufstellung in
einer der 13 abgeteilten Corrals maßgeblich. Die Startnummer gibt bereits den
zugeteilten Corral an. Mit Startnummer 10797 bin ich zwar in der Wave 1, lande
aber mit Corral 10 eher im hinteren Feld der Startaufstellung. Ordner achten
darauf, dass die immer zahlreicher herbeiströmenden Läufer im richtigen Corral
“einchecken”. Die Spannung steigt. Zufall oder nicht - kurz vor dem Start rasen
zwei F15-Jäger über die Läuferschar hinweg. Dem spontanen Gejohle folgt
ergriffene Stille, als live über Lautsprecher die amerikanische Nationalhymne
erklingt. Gleichzeitig bricht die Sonne durch die Wolken. Soviel Pathos auf
einmal - das gibt es wohl nur in den USA.
Um Punkt 10 Uhr ist es soweit: der Startschuss ertönt und man merkt förmlich,
wie die Spannung abfällt und in erleichtertes Jubelgeschrei umschlägt.
Allerdings muss ich mich schon noch etwas gedulden, denn nur langsam schieben
sich die Menschenmassen vor mir die Straße hinauf. Erst nach 6 1/2 Minuten
erreiche ich den Scheitelpunkt der Hügelkuppe und damit die Startlinie.
Aus der Provinz in die Metropole
Wie ein Pinball werde ich – zumindest gefühlsmäßig - ab der Startlinie in die
Laufstrecke geschossen. Vom Start weg erwartet uns gleich die erste kräftige
Gefällstrecke und befreit von der langen Warterei habe ich den Eindruck, dass
jeder erst einmal tempomäßig “Dampf ablässt”, auch wenn das Läuferfeld noch sehr
dicht ist. So wenig ich vorher von der Bewohnern Hopkintons mitbekommen habe -
hier am Start scheinen sie auf einmal alle versammelt zu sein. Ein dichter Pulk
Hunderter von Menschen begrüßt und verabschiedet gleichzeitig die Startenden
laut klatschend und mit den besten Wünschen.
Wie ein schier endloser Lindwurm windet sich der Läuferstrom über die Route 135
durch die Hopkinton umgebenden Wälder gen Osten. Den ersten Kilometer geht es
durch die dichte Natur flott bergab, ehe wir durch einen kurzen kräftigen
Gegenanstieg daran erinnert werden, dass der Bostoner Kurs nicht ohne Grund zu
den anspruchsvollen zählt. Aber noch steckt das jeder locker weg. Die ersten
Meilen im lockeren Auf und (primär) Ab sind noch sehr entspannend und erinnern
eher an einen beschaulichen Landschaftslauf.
Mit Erreichen der ersten Ortschaft nach Hopkinton, dem Städtchen Ashland bei
Meile 3/ km 5 werden wir jäh aus der meditativen Ruhe gerissen. Ich kann es kaum
glauben, welche Menschenmengen sich hier in dichten Reihen entlang der Straße
postiert haben und voller Enthusiasmus die vorbeiziehenden Läufer anfeuern. Das
gleiche Bild erwartet uns - nach einem weiteren Ausflug in die Natur - in
Framingham bei Meile 6/km 10. So beschaulich und provinzlerisch die kleinen Orte
mit ihren niedrigen Holzhäuschen wirken – heute scheint (fast) alles auf den
Beinen zu sein. Man merkt: der Patriots Day ist hier gleichzeitig der Marathon
Day und der Familienausflug an die Marathonstrecke hat Tradition. Die
Herzlichkeit und Ausgelassenheit des Empfangs und die geballte Wucht des
Andrangs lässt keinen kalt.
Die Strecke plätschert ohne nennenswerte Kurven in leichtem Auf und Ab dahin.
Die Sonne nimmt an Kraft zu, aber ein leichter kühler Wind lässt dies gut
ertragen. Hinzu kommt eine mustergültige Getränkeversorgung. Ab Meile 2 erwartet
uns jede Meile und damit 25 Mal (!) jeweils beiderseits der Strecke eine
langgezogene Versorgungsstelle, erst rechts, dann links, erst Gatorade, dann
Wasser. So gibt es nie Gedränge und man kann sich bestens darauf einstellen.
Einziger Wermutstropfen: Zu „Beißen“ gibt es auf der gesamten Strecke bis ins
Ziel nichts. Doch wird von privater Seite Einiges unterwegs angeboten, vor allem
Orangenscheiben und vor allem durch Kinder. Ich habe mir dennoch vorsichtshalber
einen Energie-Riegel eingepackt.
Ausgezeichnet ist auch die Streckenmarkierung. Angezeigt wird jede Meile (etwas
größer) und jeder Kilometer (etwas kleiner). Eine offizielle Netto-Zeiterfassung
per Chip erfolgt alle 5 Kilometer – hier dominiert ausnahmsweise mal das
metrische über das Meilen-System –, ebenso die Anzeige der zurückgelegten
Bruttozeit seit Startschuss per Digitaluhr.
Bei Meile 9 passieren wir den idyllischen Lake Cochituate – nur eine Meile
später sind wir im Hexenkessel von Natick. Natick ist etwas größer und
städtischer als Ashland und Framington, und hier erlebe ich eine weitere
Steigerung des Zuschauergetümmels. In vielen Reihen, dicht an dicht drängen sich
Tausende, Jung und Alt an der Strecke, werden Plakate und Fahnen geschwenkt und
mit unermüdlichem Anfeuern ein unglaublicher Geräuschpegel erzeugt. Selbst die
Bewohner eines Altenheims, in ihren Rollis in erster Reihe entlang der Straße
aufgereiht, freuen sich über diese Art der Abwechslung. Des öfteren kann ich
Barbecue-Parties am Straßenrand beobachten; der Duft des gegrillten Fleisches
lässt mich richtig neidisch werden. Vielleicht ist es gerade auch der Wechsel
aus eher ruhigen Landschaftspassagen einerseits und den Menschenmassen und der
Feier- und Feststimmung in den Orten andererseits, die einem in besonderer Weise
und immer wieder ein echtes Gänsehaut-Erlebnis bescheren.
Gespannt bin ich nun schon auf Meile 12/ km 20. Denn hier wartet ein Markstein
der Strecke, dem ein fast schon legendärer Ruf vorauseilt: das Wellesley
Collage. Hinter Natick wird es aber zunächst einmal wieder ruhig. Ich horche –
aber es ist nichts Außergewöhnliches zu hören. Wir passieren schließlich das
Straßenschild mit dem Namen des Colleges und ich sehe die verlassenen
Schulgebäude – immer noch nichts. Ein wenig Enttäuschung macht sich breit. Fällt
die Show in diesem Jahr aus? Da vernehme ich ein leises Sirren in der Ferne, das
immer mehr zu einer Geräuschkulisse anschwillt, das mich an ein Fußballstadion
bei einem Torschuss erinnert – nur eine Oktave höher. Und dann geht es ganz
schnell: Auf einmal sind sie da, Hunderte von 14 bis 18-jährigen Mädels, wild
gestikulierend und sich hemmungslos der kollektiven Massenhysterie hingebend.
Einzelne Laute sind nicht auszumachen, ein einziger schriller, durchdringender
Dauerton erfüllt die Luft. Beim männlichen Teil der Läuferschar ist eine
auffallende Konzentration am rechten Straßenrand da, wo der Jubel am größten
ist, auszumachen. Viele nutzen die Gelegenheit, binnen kürzester Zeit unzählige
Hände abzuklatschen und so mancher lässt sich die Aufforderung „kiss me!“ nicht
zwei Mal sagen oder verweilt zu einem Fotostop. Später erzählt ein Läufer stolz
von 14 Telefonnummern, die er eingesammelt habe. Zumindest nimmt jeder ein
Lächeln und ein leicht taubes Gefühl im Ohr von diesem besonderen Highlight der
Strecke mit.
Der kurz darauf folgende Ort Wellesley markiert die Halbzeitmarke. 1:38 – ich
bin zufrieden und schneller unterwegs, als ich dachte. Fantasien einer
3:20er-Endzeit geistern durch meinen Hinterkopf und verdrängen zeitweilig die
Vernunft, die mich daran erinnert, dass da ja noch jene berüchtigten Hügel
anstehen. Aber noch läuft der „Motor“ rund – und ich lasse es laufen, freue mich
über das begeisternde Publikum, das auch wieder in Wellesley lückenlos die
Straßen säumt und für eine fantastische Stimmung sorgt. Noch immer geht es
tendenziell eher bergab als bergan, schließlich hinab in die Senke des River
Charles, jenes Flusses, der Boston durchschneidet.
Der River Charles bei Meile 16 / km 25,5 markiert das vorläufige Ende des „easy
running“. Die Newton Hills liegen vor uns, konkret: vier längere Anstiege auf
den nächsten fünf Meilen. Es geht nicht steil hinauf, aber dafür beständig. Um
die 40 Höhenmeter sind es zunächst, verteilt auf etwa eine halbe Meile. Der
erste Hügel ist kein Problem. Bei Meile 17 bekomme ich einen doppelten
Energieschub. Zum einen werden hier einmalig Energie-Gels an die Läufer
ausgegeben, zum anderen wartet Reiseveranstalter Interair mit einem
Sonderservice für seine Teilnehmer in Form von Bananen und Fotoshooting auf. Das
gibt Schwung für den nächsten Anstieg bei Meile 17,5. Dennoch merke ich: die
Anstiege gehen in die Beine und drücken das Tempo. Noch stärker wird mir das
beim dritten Anstieg bei Meile 19 bewusst. Aber: den anderen geht es genauso.
Zunehmend sehe ich Läufer, die resignierend zum Fußmarsch übergehen. Ein
Mitläufer fragt mich leicht verzweifelt, ob das nun schon der letzte Hügel war –
ich muss ihn enttäuschen. Die Zuschauer in Newton geben ihr Bestes uns
anzufeuern, aber nicht wenige Läufer sind auch damit nicht mehr erreichbar.
Bei Meile 20,5 / km 33 ist es soweit. Der letzte, größte und wahrscheinlich
berühmteste Marathon-Hügel der Welt liegt vor mir: der Heartbreak Hill. Er ist
weder besonders attraktiv, noch in irgend einer anderen Weise sonderlich
auffallend. Es sind allein die (angeblich) 53 Höhenmeter, die dem Marathonläufer
in der Spätphase des Laufs das (Lauf)Leben schwer machen und der einprägsame
Namen, denen dieser Hügel seine besondere Bekanntheit zu verdanken hat.
Normalerweise wäre seine läuferische Bezwingung ein „Klacks“, im Hier und Jetzt
ist er für die meisten jedoch eine echte Herausforderung. Auch ich merke, wie
ich auf dieser elend langen Steigung kämpfen muss und versuche mich durch die
Vorstellung abzulenken, dass es danach (fast) nur noch hinab geht. Schon eine
Frage der persönlichen Ehre ist für mich allerdings, hier auf keinen Fall zu
gehen oder gar stehen zu bleiben.
Bei Meile 21 / km 34 ist es geschafft. Jäh stürzt die Strecke jenseits der
Hügelkuppe hinab und die Beine laufen wieder wie von selbst. Fern am Horizont
sehe die beiden markanten Wolkenkratzer des Prudential Building und des John
Hancock Towers in der Back Bay von Boston. Von diesen weiß ich, dass sie auf
Höhe des Zieleinlaufs liegen. Aber ermutigend ist das für mich keineswegs – denn
von hier aus scheinen sie noch endlos weit entfernt zu liegen.
Ab dem Heartbreak Hill laufen wir fast nur noch durch städtisches Gebiet. Man
merkt den Einfluss des nahen Boston. Die Zuschauerreihen reißen jetzt fast gar
nicht mehr ab. Ein Höllenspektakel erwartet uns nahe dem Boston College kurz
nach dem Heartbreak Hill. Dankbar bin ich für jede Versorgungsstation, weniger
wegen des Gatorade, das ich nicht mehr sehen kann, als vielmehr wegen des kalten
Wassers, das ich mir zwecks wohltuendem Kälteschock über den Kopf gießen kann.
Dass ich das mit einem ordentlichen Sonnenbrand auf der Schulter büßen muss,
merke ich erst im Ziel.
Die Meilen ziehen sich. Die vorstädtische Umgebung ist nicht besonders
interessant, zumindest empfinde ich es so, und die Zuschauer können mich auch
nicht mehr so recht motivieren. Es ist warm geworden und das Laufen mühsam; ich
versuche mich gedanklich vom dem, was meine Beine in gleichmäßiger Arbeit
verrichten, zu lösen und mich auf anderes zu konzentrieren. Über die Beacon
Street geht es immer weiter hinein in die Stadt. Etwa bei Meile 24 sehe ich am
Horizont ein riesiges „CITGO“-Werbeschild. Diese Wegmarke hat für die Läufer
besonderen Symbolcharakter, denn sie kennzeichnet den Beginn der letzten Meile.
Das weckt mich aus meiner Lethargie. Vor dem Schild geht es scharf nach rechts
und kurz darauf wieder nach links, was insofern erwähnenswert ist, weil es die
ersten wirklich markanten Richtungswechsel auf der Strecke sind.
Ich erreiche die lange Schlussgerade der Bolyston Street. Mehrreihig säumen die
Menschen die Straße und treiben die Läufer lärmend zum Schlussspurt an. Was für
ein Finale! Ein Blick auf die Uhr mobilisiert meine noch vorhandenen
Restenergien. Zumindest unter 3:30 zu bleiben ist mein Ziel. In der Ferne
erblicke ich den mächtigen blauen Bogen des Zieleinlauftores. Den Blick davon
nicht mehr abwendend scheinen alle Anstrengungen auf einmal verflogen. Schon
bald höre ich die dauerquasselnde Lautsprecherstimme des Einlaufkommentators.
Die letzten paar hundert Meter tauche ich ein in ein wahres Zuschauermeer. Die
dichten Menschentrauben lassen zwischen Häusern und Laufstrecke keinen Platz
mehr, kurz vor dem Ziel türmen sie sich zudem auf mobilen Tribünen. Dann geht
alles ganz schnell: Vorbei an einer Stafette wehender Fahnen, über die roten
Matten der Zeitmessgeräte und die breite blaue Bodenmarkierung mit dem Wort
„Finish“ hinweg – und es ist geschafft. Ein herrliches Gefühl.
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Zumindest das Laufen hat ein Ende – das Gehen noch längst
nicht. Permanent strömen weitere Finisher ins Ziel nach und da die Breite des
abgesperrten Zielraums begrenzt ist, geht es im gleich im Fußmarsch weiter.
Sanitäter flitzen umher und blicken den Neuankömmlingen skeptisch in die Augen.
Insofern hat das Weitergehen durchaus einen positiven Effekt, da dies spontanen
Kreislaufzusammenbrüchen entgegen wirkt. Es sind daher eher Krämpfe, die bei so
manchem zu versorgen sind. Es dauert ein Weilchen, bis ich zur Ausgabe der
Wärmefolien komme. Die Helligkeit, die die zahllosen Alufolien in der gleißenden
Sonne abstrahlen, ist kaum auszuhalten und faszinierend zugleich. Der Anblick
tausender Folienträger ist beeindruckend. Ein ganzes Stück weiter erst folgt der
nächste „Programmpunkt“: Die Abgabe der Leihchips (soweit man keinen eigenen
hat). Ein wenig schade ist, dass im Rahmen dieser Aktion die Übergabe der
schönen Medaillen nur so „en passant“ erfolgt. Und weiter dürfen wir
marschieren: zur Zielverpflegung. Jeder erhält einen Plastikbeutel mit Apfel,
Bagel und Wasser, nicht sonderlich originell, aber effektiv. Ein wenig
enttäuscht mich die Fließbandabfertigung im Zielbereich. Angesichts von knapp
22.000 Finishern, wie ich später erfahre, und beschränkten Ausweichmöglichkeiten
habe ich aber dafür aber letztlich Verständnis. Als letztes kommen in endlosen
Reihen die “Kleiderbusse”. Ich habe da spezielles “Glück” - ausgerechnet mein
Bus ist einen knappen Kilometer und damit in maximaler Entfernung vom Zieltor
entfernt. Aber so etwas stört mich um Moment überhaupt nicht. Auch außerhalb des
weiträumig abgesperrten Läuferbereichs herrscht in den umgebenden Straßen ein
unglaublicher Andrang und es dauert ziemlich lange, bis ich ein Plätzlein an der
Laufstrecke finde, um aus der Zuschauerperspektive den Zieleinlauf beobachten
und ein paar Fotos machen zu können.
Apres Marathon
Gefeiert werden im Ziel auch noch die Läufer, die nach 6 Stunden netto
eintrudeln. Wer es allerdings nicht bis 16:45 geschafft hat, hat Pech - der
erhält zwar noch den Applaus des nun rarer gewordenen Publikums, kommt aber
nicht mehr in die Wertung. Das Marathonfest ist aber auch dann noch nicht ganz
zu Ende: Abends sind wir zur After-Marathon-Party im “The Roxy and Pearl”, einem
großen Nachclub in der Back Bay nahe dem Zielgelände geladen. Bei lauter
Live-Musik können wir auf Großleinwänden über der Tanzfläche Filmbilder des
heutigen Laufs verfolgen und bei Bier und Cocktails das Erlebte rekapitulieren.
Erst hier sehe ich, dass der Kenianer
Robert
Cheruiyot in 2:07:46 zum vierten Mal den Boston-Marathon gewonnen hat. Bei
den Frauen hatte die Äthiopierin
Dire Tune in 2:25:25 die
Nase vorn.
Was bleibt
Boston bietet eine rundum perfekte Organisation, eine nicht einfache, aber
schöne und abwechslungsreiche Strecke und viele Zuschauer. Das bieten auch
einige andere große Marathonveranstaltungen. Aber es ist etwas anderes, was den
Boston Marathon letztlich einmalig macht: Die “Emotion”. Die Art und Weise, wie
die Zuschauer an der Strecke mitgegangen sind und mitgefeiert haben, ist es, was
mir den Lauf in Boston unvergesslich bleiben lassen wird und einmalig macht. |
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