Durch die grüne Hölle -
von Norman Bücher
Hüfttiefe Sümpfe, handgroße Spinnen, fleischfressende Pflanzen und grüne Wände
aus gewaltigen Bäumen. Nichts als dunkelgrüner Dschungel, so weit das Auge
reicht. 40 Grad Celsius sind es im Schatten. Mein T-Shirt und meine Laufhose
sind komplett durchnässt und kleben an meinem Körper. Kein Wunder, bei fast
hundert Prozent Luftfeuchtigkeit. Die äußeren Bedingungen sind extrem und die
Umwelt unerbittlich. Ich befinde mich auf der zweiten Etappe des Jungle
Marathon, der als der gefährlichste Abenteuerlauf der Welt gilt. 222 Kilometer
in sechs Etappen geht es bei diesem Rennen durch den Amazonas Regenwald. Fünf
Kilometer in sage und schreibe 2 Stunden und 10 Minuten habe ich bisher heute
zurückgelegt. Immer wieder muss ich über imposante Baumstämme steigen, die im
Wege liegen. Dann tauchen plötzlich tückische Erdlöcher auf, die von Blättern
verdeckt werden und eine hohe Verletzungsgefahr darstellen. Höchste Vorsicht ist
hier geboten. Bloß nicht umknicken! Die Strecke ist extrem anspruchsvoll bei
diesem knallharten Rennen. Alle fünfzehn Minuten bleibe ich für einen kurzen
Augenblick stehen, damit mein Körper nicht überhitzt. Mein Puls rast und ich
schnappe nach Luft, atme tief durch die Nase ein und ganz lange durch den Mund
aus, damit meine Pulsfrequenz langsam wieder sinkt. Aus jeder Pore meines
Körpers tritt Schweiß. Selbst wenn ich einfach nur da stehe und nichts tue,
tropfen die Schweißperlen weiter von meinem Körper auf den Boden. Ich fühle mich
wie in einem riesigen Gewächshaus.
|
|
Auuh, was ist das denn bitte? Vor meinen Füßen hat sich eine Ameisenstraße
gebildet. Und was für eine: Ameisen, so groß wie mein Daumen, die über den
feuchten Dschungelboden huschen. In diesem Moment kommt mir der abschließende
Appell vom Dschungel-Überlebenstraining, das wir vor Beginn des Rennens hatten,
wieder in den Sinn: „So wenig wie möglich berühren und allem, was sich bewegt,
aus dem Weg gehen.“
Selbst Ameisenbisse können in dieser Region sehr
schmerzhafte Folgen haben. Von den anderen gefährlichen Tieren wie Jaguare,
Spinnen, Skorpione, Schlangen, Dschungelwildschweinen, Piranhas und
Stachelrochen ganz zu schweigen. „Nichts wie weiter“, sage ich mir und gehe
wieder in ein langsames Lauftempo über. Immer wieder bleibe ich an
herunterhängenden Lianen kleben und Dornenzweige reißen an meiner Kleidung.
Der
Dschungel ist nichts für zarte Haut. Nackte Haut wirkt hier wie ein Magnet auf
die unzähligen, hungrigen Insekten. Ich muss höllisch aufpassen, denn
Schürfwunden und Hautinfektionen können in diesem Terrain schwerwiegende Folgen
haben. Vor mir taucht schon das nächste Hindernis auf: ein Sumpf, den es zu
durchqueren gilt. Auch davor wurde beim Überlebenstraining gewarnt, da Schlangen
und vor allem Stachelrochen Bewohner dieser trüben und seichten Gewässer sind.
Bilder von Abenteuerfilmen schießen mir in den Kopf. Bilder von riesigen, angst
einflößenden Anakondas, die an die Wasseroberfläche kommen, angreifen und ihre
Opfer grausam erwürgen. „Stop“, sagt meine innere Stimme. „Ich bin nicht der
erste Läufer, der durch diesen Sumpf marschiert, und die anderen leben auch
noch. Also Augen zu und durch.“ Doch die Herausforderung beim Durchschreiten
dieser Sumpflöcher, von denen es auf jeder Etappe gleich mehrere gibt, ist, dass
man häufig nicht erkennen kann, wie tief diese sind. Ganz langsam gehe ich,
Schritt für Schritt, durch das trübe Wasser.
Ich merke, dass irgendetwas oder
irgendjemand meine Wade berührt. Ich denke nicht weiter drüber nach, sondern
will einfach nur heil aus diesem Sumpfloch wieder heraus kommen. Plötzlich sinke
ich mit dem linken Bein ein – immer tiefer und tiefer! Ich halte die Luft an wie
bei einer Achterbahnfahrt abwärts. Ich versuche die Balance zu halten und kann
mich gerade noch an einem herunterhängenden Ast festhalten, sonst hätte es mich
von Kopf bis Fuß in das Sumpfloch gehauen. Behutsam ziehe ich mich am Ast wieder
in meine Ausgangsposition, atme einmal tief durch und gehe weiter. Ich bin
heilfroh, als ich wieder festen Boden unter meinen Füßen habe. Das Fortbewegen
beim Jungle Marathon hat stellenweise nichts mehr mit Laufen zu tun: Stolpern,
Klettern, Schliddern und Schwimmen sind angesagt.
Vergiss jegliche Zeitvorgaben
bei diesem Rennen, denn hier bekommt der Faktor Zeit eine ganz neue Dimension.
Für einen Kilometer muss man schon einmal mit zwanzig Minuten und mehr rechnen.
Auch, weil ich meine komplette Ausrüstung bei mir trage, inklusive Essensvorräte
für sieben Tage. Ich bin in dieser Woche komplett auf mich selbst gestellt, was
die Energiezufuhr anbelangt. Nur Wasser bekommen wir vom Veranstalter
bereitgestellt. Das bedeutet insgesamt zwölf Kilogramm an Gewicht, was das
Laufen enorm erschwert. Jeder zurückgelegte Meter kostet die doppelte Energie,
besonders in dieser erbarmungslosen Umgebung. |
|
Vor mir kann ich den nächsten Checkpoint ausmachen, von dem es auf der heutigen
Etappe drei Stück gibt. Meine Wasserblase, die immerhin für drei Liter
Flüssigkeit Platz bietet, freut sich wieder aufgefüllt zu werden. Ich löse eine
Salztablette auf, die bei diesem Lauf zur Pflichtausrüstung gehört. Wie
selbstverständlich habe ich im Nu einen halben Liter vom Elektrolytgetränk
getrunken. Auch heute werde ich wieder bis zu zwölf Liter Flüssigkeit in mich
aufnehmen.
„Drink or die“, hat es ein Arzt beim letzten Briefing passend auf den
Punkt gebracht. An jedem Checkpoint müssen wir eine obligatorische Pause von
fünfzehn Minuten einlegen. Wegen dieser brutalen äußeren Bedingungen. Seit sechs
Wochen hat es hier nicht mehr geregnet – und das im Regenwald. Die Temperaturen
sind dadurch noch einmal um ein paar Grad höher als normalerweise zu dieser
Jahreszeit.
In meiner Vorstellung sehe ich mich in einem großen Schwimmbecken
mit eiskaltem Wasser und einer kühlen Cola liegen. Das tut gut. Doch die
Realität sieht ganz anders aus: heiß, heißer, Dschungel. Ich esse noch einen
Energieriegel und dann geht es weiter – sehr steil bergauf. Die Anstiege, von
denen es beim Jungle Marathon einige gibt, erinnern mich von der Schwierigkeit
her an die am Mont Blanc oder auf La Réunion. Ich muss mich immer wieder an
Ästen und Bäumen abstützen, um voran zu kommen. Wie gut, dass ich meine
Radhandschuhe angezogen habe, die etwas Schutz vor den unzähligen Dornen,
Stacheln und scharfkantigen Blättern bieten. Der Untergrund ist schlammig,
lehmig und ein Labyrinth aus Baumwurzeln, Zweigen und Gestrüpp stellen
unangenehme Hindernisse dar. Immer wieder rutsche ich aus oder stolpere über
eine Wurzel. Wohin ich auch schaue: Grün, grün und nochmals grün. Die „grüne
Wand“ ist so dicht, dass man keine fünfzig Meter weit sehen kann. Meine Augen,
Nase und Ohren erleben hier einen Frontalangriff. Angenehmes Vogelgezwitscher,
schrille Schreie und unheimliche Laute - die endlose Geräuschkulisse der
Dschungelbewohner wirkt einerseits faszinierend auf mich, auf der anderen Seite
dreht man fast durch. Immer wieder nehme ich auch links und rechts des Pfades
ein Rascheln wahr. Neugierig drehe ich meinen Kopf Richtung Geräusch, in der
Hoffnung ein seltenes Tier erblicken zu können. „Einen Jaguar nimmst Du zuerst
durch die Nase wahr, bevor Du ihn siehst“, kommt mir die Botschaft vom
Dschungelüberlebenstraining in den Sinn.
Bin ich überhaupt noch auf dem richtigen Weg? Ich habe schon länger keine
Markierung mehr gesehen. Ein Verlaufen im Dschungel könnte fatale Folgen haben.
Das ist bisher erst einem Läufer bei diesem Rennen passiert, der einem falschen
Pfad gefolgt war und erst Stunden später in der Nacht unter Schock vom Suchtrupp
gerettet werden konnte. Glücklicherweise erblicke ich ein gelbes Band ein paar
Meter vor mir. |
|
Dann endlich, nach acht Stunden, habe ich es geschafft und das Ziel der zweiten
Etappe erreicht. Ich habe noch nie acht Stunden für eine Strecke von 23
Kilometern benötigt. Umgehend suche ich mir einen Platz für meine Hängematte.
Während des gesamten Rennens wird in provisorisch eingerichteten Zeltlagern am
Tapajos-Fluss geschlafen. Meine winzige Hängematte stellt während des Rennens
mein Zuhause dar. Meine Kleidung ist völlig durchnässt und von oben bis unten
voller Schlamm, Morast und Dreck. Auch meine Füße sind völlig aufgeweicht und
wie durch ein Wunder blasenfrei geblieben. Winzige Sandkörner reiben an meiner
Haut. Mein Kopf fühlt sich schwer wie ein Betonklotz an. Die lange Etappe und
vor allem die unerbittliche Hitze machen mir und auch den anderen Läufern zu
schaffen. Ich sehne mich nach einer warmen Dusche, einem ruhigen und kühlen
Zimmer und einem komfortablen, sauberen Bett. Das ist nur mein Wunschdenken,
hier im Dschungel existiert kein Komfort. Keinerlei Luxus. Ich bin froh, wenn
ich in meiner Hängematte sitzen und meine Fertignudeln aus der Tüte essen darf.
Das stellt für mich Luxus in diesen Tagen dar.
Auch hier im Lager ist weiterhin
Konzentration und Aufmerksamkeit angesagt, denn der Dschungel schläft
bekanntlich nie. Ein unachtsamer Augenblick kann ins Unglück führen. Einfach auf
dem Boden zu sitzen, zu entspannen oder seine Sachen unbeobachtet liegen zu
lassen, kann hier fatale Folgen haben.
Im gestrigen Camp durften wir
Bekanntschaft mit einer großen, beharrten Vogelspinne machen. Unzählige Insekten
und vor allem Ameisen belagern jeden Abend unsere Hängematten und Rucksäcke.
Deshalb ist es ratsam, beim Aufstehen unter der Hängematte nach solchen Tieren
Ausschau zu halten. Wenn die Sonne untergeht, treiben zudem Moskitos ihr
Unwesen. Während des Jungle Marathon juckt es permanent auf meiner Haut und Sand
scheint an jeder Stelle meines Körpers zu sein.
|
|
Plötzlich fängt sich alles um mich herum an zu drehen. Mir wird auf einmal
schlecht und schwindelig. Umgehend begebe ich mich zum Ärzteteam. Dort
angekommen, breche ich zusammen. Ab diesem Punkt habe ich einen totalen
Filmriss. Ich nehme ab und an nur ganz schwach einzelne Stimmen wahr, die sehr
besorgt klingen. Infusionen folgen. Zitternd liege ich am Boden, unfähig mich
aufzurichten, geschweige denn aufzustehen. Alles ist dunkel um mich herum. Mir
ist einfach nur kalt, dabei hat es selbst um 21 Uhr noch 30° Grad. In meinem
Kopf treibt eine gewaltige Achterbahn ihr Unwesen. Erst Stunden später schaffe
ich es, wieder auf beiden Beinen stehen zu können und im Zeitlupentempo Richtung
Hängematte zu marschieren. Ich habe mich selten zuvor in meinem Leben so mies
gefühlt. Sollte ich den Lauf mit aller Gewalt, mit aller Willenskraft finishen?
Mit dem Risiko, dass ich vielleicht mitten im Dschungel zusammenbreche? Oder
sollte ich dieses Mal meine Vernunft über den Willen stellen und das Rennen
abbrechen? Ich entscheide mich für letzteres. Ehrlich gesagt, gibt es für mich
in diesem Moment auch keine Alternative. Für mich steht, ohne groß zu überlegen,
umgehend die Entscheidung fest: Ich breche das Rennen ab! Diese Entscheidung ist
für mich im ersten Moment natürlich sehr schmerzhaft. Über Monate habe ich mich
auf dieses Rennen vorbereitet, habe sehr viel Zeit, Energie und auch Geld in das
Projekt Jungle Marathon investiert. Und nach zwei Tagen, nach ganzen 39
Kilometern ist das Rennen für mich vorüber. Aus und vorbei! Das ist hart! Wie
ein Haufen Elend sitze ich auf dem schlammigen Boden im Lager und starre ins
Leere. Eine eigenartige Ruhe umgibt mich. Für den wolkenfreien Himmel mit seinen
funkelnden Sternen habe ich überhaupt kein Auge. Ich bin einfach nur leer,
unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Dann schaffe ich es, in meine
Hängematte zu steigen und ein wenig zu schlafen.
Auch wenn ich den Jungle Marathon nicht erfolgreich beenden konnte, war es für
mich ein besonderes Erlebnis in einer der faszinierendsten Regionen der Erde
laufen zu dürfen.
Mehr Informationen zu Norman Bücher, seinen Vorträgen und seinen Läufen unter
www.norman-buecher.de
|
|
Inhaltsverzeichnis
Suchen
Weitere
Freizetthemen |
|
WEB 2.0 Buttons |
|
|