Das Geheimnis der Rarámuri -
Jochen Brosig beim 6-Stundenlauf in Weißenstadt
Samstag. 10.00 Uhr. 6-Stundenlauf in
Weißenstadt. Rings um mich herum die
typischen hageren, langen Läufer. Ich komme mir vor wie Ottfried Fischer bei Germany's next Topmodell. Aber es geht noch dürrer. Im Geiste sehe ich Paul
Tergat vor mir. 1,82 m groß und wiegt 56 kg. Kein Gramm Fett.
Marathonweltrekordler Haile nur Sehnen und Muskeln. Da taucht die Frage auf: Wer
sind die besten Langstreckenläufer der Welt? Die Kenianer oder die Äthiopier?
Die Antwort: Keiner von beiden, sondern das Volk der
Tarahumara. Sie leben in
der Bergwüste der Sierra Madre im Norden Mexikos.
Der Start reißt mich aus meinen Gedanken. Wir laufen los! 6 Stunden. Um 16.00
Uhr ist Schluss. Wer läuft die meisten Kilometer? Vorne schießen die ersten los
wie bei einem 10 KM-Lauf. Leichtfüßig schweben sie davon wie die Tarahumara, die
Langstreckenläufer. Laufen nimmt in ihrer Kultur einen hohen Stellenwert ein, da
sie traditionell Jäger sind. Sie bezeichnen sich selbst als Rarámuri (die, die
schnell rennen). Sie laufen bis zu 170 km durch raue Schluchten ohne anzuhalten.
Heute könnte ich auch etwas vom Geist der Rarámuri gebrauchen. Ich war schon
einmal schneller unterwegs. Langsam laufe ich mich ein, finde meinen Rhythmus.
Eines Tages waren sie da. 1993 bei einem der schwierigsten Ultramarathons
überhaupt, dem Leadville Trail 100. Was für ein Gegensatz. Ein Zusammenprall der
Kulturen: Dort die in Polar-Fleece gehüllten, Pulsmesser tragenden Favoriten.
Hier ein halbes Dutzend Typen mittleren Alters. Sie rauchten, trugen Tunikas und
selbst gemachte Sandalen. Die Sandalen hatten sie sich aus alten Reifenteilen
vom nahe gelegenen Autofriedhof zusammengeflickt. Das ist schon Wahnsinn, denke
ich mir. Und ich laufe hier in High-Tech-Schuhen über den Asphalt. Wo bin ich
eigentlich? Runde Drei oder Vier? 11.00 Uhr.
Sie wärmten sich nicht auf. Machten keine Dehnübungen oder Ähnliches. Nichts,
aber auch nicht das Geringste ließ darauf schließen, dass diese seltsame Bande
gleich an einem der anstrengendsten Extrem-Marathon der Welt teilnehmen würde.
Vor mir läuft Josef. Seit 2 Stunden mein Laufpartner. Ist das schon Runde Acht?
Heute geht alles so schnell. „Running Indians?“, geht es mir durch den Kopf. Die
Gruppe hatte zuvor nie ein spezielles Training absolviert. Sie achteten auch
nicht darauf sich vor dem Lauf zu schonen. Das ganze Jahr über rauchen sie
schwarzen Tabak. Sie vertilgen Unmengen von Kohlehydraten und kaum Fleisch. Ihr
Lieblingsgetränk ist ein schwarz gebrannter Kaktus-Fusel, sodass sie ein Drittel
der Zeit entweder betrunken sind oder einen Kater haben. Ich glaube ich habe
auch bald einen Kater. Einen Muskelkater. Es läuft überhaupt nicht rund. Nix Rarámuri! Jochen der Plattfußindianer läuft um den See.
Nach dem Start blieben die Tarahumara erwartungsgemäß hinter den bekannten
Ultraläufern zurück. Später zogen die „Running Indians“ scheinbar mühelos
leichten Schrittes an den übrigen Teilnehmern vorbei. Mir geht es seit 2 Runden
ähnlich. Schon bald hörten die Führenden das laute Sandalengetrappel immer näher
kommen. Die Indianer wurden zunehmend stärker und zogen das Tempo an. Auch ich
erhöhe das Tempo, ziehe an einer Dreiergruppe vorbei. Ich fühle mich gut. Die
Zuschauer feuern mich an. Wieder überhole ich zwei. Die anderen Teilnehmer
werden langsamer. Das letzte Mal den Kopf nass machen. Turbo einschalten. Gas
geben. Die letzten Kilometer. Noch zwanzig Minuten.
Victoriano Churro, ein einfacher Bauer, lief mit nur einer Sekunde Vorsprung vor
Cerrildo Chacanto über die Ziellinie. Die Sensation war perfekt! Ich bin heute
ebenso verblüfft. Vor mir taucht der Drittplatzierte auf. Als wäre die Kräfte
verzehrende Strecke ein Kinderspiel, ziehe ich das Tempo noch einmal an. Ich
komme immer näher. Noch zwanzig Meter. Gleich überhole ich. Da ertönt der
Zielschuss. Robert Wimmer, Sören Schramm, Rainer Leyendecker und dann ich auf
Platz 4. Überraschung. Die Rarámuri kamen, sahen und siegten, zwei Jahre
hintereinander. Pulverisierten den Streckenrekord. Verschiedene Ultramarathons
folgten. Wo sie hinkamen waren sie vorne mit dabei. Dann waren sie wieder weg.
Verschwanden aus der Laufszene. Das Geheimnis ihrer unglaublichen läuferischen
Fähigkeiten nahmen sie mit. Und heute hat mich der Geist der Rarámuri berührt.
Run happy and smile! Euer Querläufer
Jochen Brosig |