Am Nachmittag radeln wir quer durch die Stadt zur Eishalle, um die
Startunterlagen und die Lizenzen für meine zwei Coachs zu holen. Zurück im
Hotel trifft nun auch meine Schwester Moni ein - unser Team ist komplett.
Jeder ist gespannt, wie er die 100 Kilometer in einer schlaflosen Nacht
bewältigen wird. Vor dem Start geht’s dann noch eine Pizza reinschieben.
In der Pizzeria stellt sich heraus, dass der sympathische Wirt Ende der
90er Jahre in Biel mehrmals mitgelaufen war (Bestzeit 8 Stunden!). So
finde ich eine tolle Gelegenheit, noch ein paar Profi-Antworten auf meine
offenen Fragen zum Lauf (welche Schuhe, welche Kleidung, was und wie viel
unterwegs essen und trinken ...) zu bekommen. Um 21:15 Uhr geht's dann mit
dem Rad vom Hotel durch die Innenstadt zum Start. Dabei müssen wir uns
unerwarteterweise durch Menschenmassen quälen, die den Skaterwettbewerben
zuschauen. Wir schaffen es gerade noch rechtzeitig zum Start der Radfahrer
um 21:45 Uhr, die bis Lyss vorausfahren müssen und dort wieder zu den
Läufern stoßen. Ich verabschiede mich von meinen Coachs, gebe mein Gepäck
in der Curlinghalle ab (die Wertsachen werden sogar bewacht) und bereite
mich auf den Start vor. Tagsüber hatte es seit langem wieder mal
sommerliche Temperaturen. Auch jetzt ist es noch ziemlich warm. So kann
ich gar nicht verstehen, dass manche Läufer mit langer Hose und/oder
langem Laufshirt oder sogar mit Jacke starten.
Der Lauf
Um 22:00 Uhr ist es dann endlich so weit: der Startschuss setzt das
Feld langsam in Bewegung. Da ich mich ziemlich weit hinten eingeordnet
habe, dauert es ein bis zwei Minütchen, bis auch ich die Startlinie
überquere. Ein Läufertraum wird für mich Wirklichkeit: „Irgendwann musst
du nach Biel“. Einfach toll, hier dabei sein zu können. Was wird in dieser
Nacht alles auf mich zukommen? Ein Hauch von Abenteuer macht sich bei mir
in solchen Momenten breit. Die ersten Kilometer führen durch die Straßen
von Biel, in denen die Wärme des Tages noch gespeichert ist. Schon allein
deshalb wird mir schnell richtig heiß. Die tolle Zuschauerkulisse, die ein
schier endloses Spalier bildet, die zahllosen Rufe "Allez! Allez!" und das
begeisternde Hände-Abklatschen der Kinder sorgen dafür, dass mir auch ums
Herz warm wird. Gleichzeitig habe ich im Kopf, mich nicht zu sehr von der
Euphorie anstecken zu lassen. An der ersten Wasserstelle gleiche ich dann
meinen Flüssigkeitsverlust etwas aus. Nach ca. 6 Kilometern geht es dann
endlich mit einer leichten Steigung raus aus der schwülen Stadt in die
angenehm kühle Nacht. Da herrschen schon eher jene Temperaturen, bei denen
ich mich wohl fühle. Jetzt finde ich auch langsam in meinen Laufrhythmus.
Es wird ruhiger um uns herum. Nur eine Horde junger Engländer puscht die
Zuschauer und sich selbst mit lautem Geschrei und Getöse immer wieder auf
und sorgt für kurz aufbrandende Beifallsstürme. Die Lichtverhältnisse
bereiten bisher kein Problem. Ein klarer Himmel mit Vollmond sorgt dafür,
dass man auf dem freien Feld kein Zusatzlicht einschalten muss und so auch
die nächtliche Stimmung viel intensiver genießen kann. Bis Aarberg laufen
wir auf Schotter- und Teerwegen durch eine landwirtschaftlich geprägte
Landschaft. Richtungswechsel werden vorbildlich durch eine auffällige
Beschilderung oder durch mit Leuchtsignalen bewaffnete Streckenposten
angezeigt. Das habe ich auch nicht anders erwartet – eben Schweizer
Präzisionsarbeit.
Die Radbegleitung
In Lyss, nach gut 20 Kilometern, ist es dann erst mal vorbei mit der
mitternächtlichen Stille. Ich konzentriere mich jetzt weniger aufs Laufen,
sondern mehr darauf, meine beiden Coachs am Straßenrand zu entdecken. Das
erweist sich im Nachhinein jedoch als unproblematisch, da die Hälfte der
Teilnehmer schon durch ist und sich so meine Begleiterinnen in erster
Reihe positionieren konnten. Nun wird es etwas enger auf der Piste. Die
Radler beanspruchen auch ihren Platz. Teilweise sind ihre Gefährte wie
Lastesel mit Proviant beladen. Ich versorge mich ausschließlich an den
Verpflegungsstellen, deren Angebot und Service einfach gigantisch ist:
Wasser, Sportlertee, Bouillon, Cola, Isogetränk, Bananen, Orangen, Brot,
diverse Energie-, Müsli-, Schokoladenriegel - das reinste Schlaraffenland.
Was will ich mehr? Warum also etwas mitschleppen (lassen)? Eine angenehme
Seite an den Radbegleitern ist zweifellos, dass sie den Weg ausleuchten.
Bis auf wenige Ausnahmen sind die Radler sehr umsichtig, so dass ich keine
Kollision zwischen den konkurrierenden Fortbewegungsmitteln miterleben
muss. Sie müssen auch voll konzentriert bei der Sache sein, allein schon
um die unbeleuchteten „Wildpinkler“ am Wegesrand nicht über den Haufen zu
fahren. An den Steigungen verdichtet sich der Tross immer mal wieder. Ich
verliere hier auch den Kontakt zu meinen beiden Coachs, da sie bergauf den
Läufern Vorrang gewähren und mir so nicht auf den Fersen bleiben können.
Hinter Ammerzwil
Bei der nächsten Verpflegungsstation in Ammerzwil nutze ich das üppige
Nahrungsangebot in vollen Zügen. Außerdem habe ich die Hoffnung, hier
wieder meine Betreuerinnen zu treffen. Aber als ich nach etlichen Minuten
immer noch allein und verlassen herumstehe, begebe ich mich wieder auf die
Piste. Auch bei der nächsten Verpflegungsstation keine Spur von Sabine und
Moni. Nach einigen weiteren Kilometern spüre ich immer häufiger ein
Rumoren in der Darmgegend. Der Mix aus Isogesöff, Energieriegel, Brot,
Cola, Tee, Suppe und Obst sorgt in meinem Verdauungstrakt für größere
Turbulenzen, die ich erst mal zu ignorieren versuche. Wenn ich mich jetzt
in die Büsche schlage, fahren meine Coachs womöglich an mir vorbei und
verschwinden in den unendlichen Weiten der Schweizer Nacht. Kurz bevor es
wirklich unangenehm wird, trifft dann meine Schwester bei mir ein. So kann
ich mich endlich zum Toilettengang in Gottes freier Natur aufmachen und
kurz darauf wieder erleichtert weiterlaufen. Mittlerweile geht es auf die
35-Kilometer-Marke zu. Neben den 100-km-Läufern und Radlern beanspruchen
jetzt auch die Marathonläufer, eine halbe Stunde nach uns in Biel
gestartet, Platz auf der Piste. Die Führenden werden schon von weitem
lautstark von ihren Fahrradbegleitern angekündigt und rasen förmlich an
uns vorbei. Soll ich neidisch darauf sein, dass sie bald im Ziel einlaufen
werden? Nein! Ich fühle mich ja noch stark und bin vor allem gespannt auf
den legendären Ho-Chi-Minh-Pfad und die letzten 25 Kilometer. Die
Temperaturen sind für mich optimal. Ich schwitze kaum und muss auch nicht
auf zusätzliche Kleidungsstücke aus dem Fundus meines Begleittrosses
zurückgreifen. In Oberramsern laufe ich um 2 Uhr am Marathonziel vorbei
und der 40-Kilometer-Marke entgegen. Nachdem die letzten Kilometer in
ebenem Gelände verliefen, wird es jetzt wieder etwas hügeliger. Die
Steigung vor Buechhof laufe ich - wie alle "steileren" Passagen - im
kraftsparenden und raumgreifenden Wanderschritt. Damit bin ich meistens
sogar schneller als meine joggenden Mitläufer.
Hinter Kirchberg
Nach Kirchberg geht es sanft bergab. Ich passiere das unspektakulär am
Wegrand stehende 50-Kilometerschild, versuche mit lockeren und großen
Schritten das leichte Gefälle auszunutzen und mache mir klar: „Den größten
Teil der Strecke habe ich geschafft. Schritt für Schritt kommt das Ziel
näher.“ Was einem während des Laufens alles so durch den Kopf geht, lässt
sich im Nachhinein nur bruchstückhaft rekonstruieren. Mich beeindruckt
immer wieder die Großartigkeit der Natur, die sich mir gerade in vielen
Kleinigkeiten erschließt, zum Beispiel in den unterschiedlichen Düften und
Geräuschen um mich herum. „Ist es nicht toll, welche Distanzen der Mensch
auf seinen eigenen Füßen zurücklegen kann? Ist meine Muskulatur noch
locker? Hab’ ich genügend Kraftreserven oder muss ich das Tempo drosseln?
Hänge ich mich an einen Schrittmacher oder laufe ich alleine weiter?“
Solche und ähnliche Gedanken verkürzen mir die Laufzeit. Es wird mir auch
ohne Walkman nie langweilig.
Der Ho-Chi-Minh-Pfad
In den Ortschaften und sogar auf freiem Feld sitzen auch jetzt noch
vereinzelt Zuschauer und feuern die Läufer an. Ich habe Respekt vor deren
Durchhaltevermögen. Gegen 4:00 Uhr laufe ich nach 55 Kilometer in
Kirchberg ein, verabschiede mich von meinen Mädels, für die die nächsten
10 Kilometer tabu sind, tanke bei der hervorragend bestückten
Verpflegungsstation auf und nehme einen der Höhepunkte des Laufes in
Angriff: den Ho-Chi-Minh-Pfad, ein Trampelpfad auf dem Uferdamm entlang
der Emme. Aus Laufberichten weiß ich bereits, dass sich die
Wegbeschaffenheit und die Lichtverhältnisse nun stark verändern werden.
Deshalb habe ich mir auch eine Stirnlampe zugelegt, die mir beim Laufen
über den mit Baumwurzeln, Steinen und Schlaglöchern durchsetzten, aber
breiten Pfad gute Dienste leisten soll. Trotz künstlicher Beleuchtung
stolpere ich dennoch mehrmals über Unebenheiten. Ohne Lampe hätte ich
sicher noch größere Probleme nicht zu stürzen. Der Pfad bleibt in meiner
Erinnerung in erster Linie aber ein beeindruckendes Naturerlebnis: die
nächtliche Einsamkeit, die teilweise urwaldartige Uferlandschaft, das sich
überschlagende Vogelgezwitscher, der langsam herannahende Tag. Es ist
bereits hell, als ich die letzten Kilometer entlang der Emme auf einem
geschotterten und von einer Betonmauer begrenzten Pfad laufe und immer
mehr Läufer überhole. Das baut mich natürlich auf. Trotz eines
Kilometerschnittes von 6:30 Minuten seit Kilometer 50 spüre ich keinerlei
Müdigkeit oder Erschöpfung und beschließe deshalb, im gleichen Tempo
weiter zu laufen, um am Schluss nicht in die große Hitze zu kommen. Bei
Kilometer 65 stehen wieder die Radler bereit, um sich ihren Läufern
anzuschließen. Ich kann Sabine und Moni allerdings nicht entdecken. Wo
stecken sie nur?
Der Morgen
Die nächsten 12 Kilometer bis Bibern machen dann richtig Spaß. Der
feste Laufuntergrund, die Frische des Tages und die reizvolle Landschaft
mit grünen, saftigen Wiesen und hübschen Bauernhöfen lassen die Kilometer
nur so vorüber fliegen. Es ist mittlerweile 6 Uhr vorbei und ich spüre,
dass meine Fußsohlen durch die zunehmende Sonneneinstrahlung und die
Asphaltlauferei immer wärmer werden. Kurz vor Bibern sehe ich auf der
gegenüberliegenden Hangseite, wie sich der Läufertross an der letzten
Steigung wie eine Ameisenkolonne hoch bewegt. Zuvor kann ich in Bibern
noch mal ohne Gedränge meine Energiespeicher auffüllen. So gestärkt nehme
ich den Berg im schnellen Wanderschritt in Angriff, hole wiederum etliche
Läufer ein und habe bei Kilometer 78 ein wahres Gipfelerlebnis. "78
Kilometer. So weit bin ich noch nie an einem Stück gelaufen.", geht es mir
durch den Kopf.
Ich spüre wiederholt in meinen Körper hinein und merke: "Ich bin locker
und hab’ noch genügend Kraftreserven. Die Füße brennen zwar etwas, ist
aber zum Aushalten. Wenn es weiter so gut läuft ...". Ich wage nicht
weiter zu denken. 22 Kilometer - immerhin noch eine Halbmarathondistanz
nach fast zwei gelaufenen Marathons - müssen erst mal gelaufen werden.
Aber jetzt geht es erst mal bergab und danach relativ eben Richtung Ziel.
Um locker zu bleiben und von den zunehmenden Temperaturen abzulenken,
stelle ich mir vor, ich würde im heimischen Bamberg mit meinen
Laufpartnern Evi und Jochen durch den kühlen Hauptsmoorwald traben. So
spule ich Kilometer für Kilometer herunter, lege sogar noch an Tempo zu
(Kilometer 76-100: 6:12 min/km) und überhole wiederum etliche langsamere
Läufer. Das gedrosselte Tempo zwischen Kilometer 30 und 50 (ca. 6:45
min/km) wirkt sich jetzt offensichtlich positiv aus. Die ersten 30 km war
ich ja nahezu im 10 km/h-Tempo gelaufen. Mittlerweile sind auch Moni und
Sabine wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Sie überschätzten mein
Lauftempo und meinten, sie hätten mich am Treffpunkt nach dem Emmendamm
schon verpasst. So waren sie Richtung Ziel gerast, bis sie irgendwann auf
Läufer trafen, die die 10-Stunden-Grenze unterbieten wollten. Dann war
ihnen klar, dass ich noch hinter ihnen sein musste.
Dem Ziel entgegen
Kilometer 90 und ich kann es gar nicht richtig fassen, dass ich mich
immer noch so kräftig und locker fühle. "Einfach locker weiterlaufen, dann
bist du in gut einer Stunde im Ziel, bevor es richtig heiß wird.", nehme
ich mir vor. Ich passiere Kilometer 95. Ab jetzt sind die restlichen
Kilometer einzeln ausgeschildert. Der Countdown läuft! Oft sind es ja
gerade diese letzten Meter, die sich schier endlos hinziehen. Aber heute
vergehen sie wie im Flug. Bei Kilometer 98 stoße ich einen lauten
Freudenschrei aus. Was soll jetzt noch schief gehen? Die Füße beginnen
zwar langsam zu kochen, aber der akute Endorphinausstoß unterdrückt die
Schmerzen. Kilometer 99. Ich kann es nicht fassen. Nur noch 1000 Meter
trennen mich von meinem großen Ziel. Und auch die spule ich problemlos
herunter. Am Samstag, den 10.6.2006, um 8:43 Uhr laufe ich jubelnd ins
Ziel, wo ich von meinen beiden Coachs mit offenen Armen empfangen werde.
Als Lohn gibt's die ersehnte Medaille, die dieses Jahr viel schöner
gestaltet sein soll als in den letzten Jahren, und das leuchtend gelbe
Finisher-Shirt mit dem Rückenaufdruck "Fit für Biel? ;)". Ich kann es in
diesem Moment noch nicht richtig begreifen, dass alles schon vorbei ist.
„Irgendwann musst du ein zweites Mal nach Biel.“ Auf jeden Fall zum
Jubiläumslauf im übernächsten Jahr. Gerüchteweise höre ich, dass das
vielleicht die letzte Nacht der Nächte sein könnte. Das kann und will ich
nicht glauben! |