6.2.2010 Brocken-Challenge - 13 Stunden Eis und
Schnee - Laufreportage von Günter Kromer
Schuld an allem ist nur youtube! Schuld daran, dass ich schon seit über 12
Stunden durch unterschiedliche Winterlandschaften laufe, marschiere oder nur
noch langsam gehe, das Ziel aber immer noch in weiter Ferne liegt, schuld daran,
dass ich heute morgen kilometerweit über vereiste Wege rannte und schuld daran,
dass ich zeitweise in nicht mehr zum Laufen geeignetem tiefen Schnee wie ein
Turbopinguin vorwärts watschelte. Doch trotz aller Anstrengung genieße ich heute
jeden einzelnen Kilometer, und ich bin froh, dass ich frühzeitig von der
Brocken-Challenge erfuhr und nun diesen einzigartigen Lauf selbst erleben kann.
Es lohnt sich, im Internet nach Laufberichten zu suchen! |
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Als ich letztes Jahr an einem heißen Sommertag auf youtube.com einige Videos von
Ultraläufern anschaute stieß ich auch auf die NDR-Sendung über die
Brocken-Challenge, einen Ultralauf von Göttingen auf den Gipfel des Brocken, des
höchsten, kältesten, schneereichsten und windigsten Berges in Norddeutschland.
„Wie kann man nur so verrückt sein, im Winter so einen langen und eisigen Ultra
zu laufen?“ dachte ich. „Dort würde ich nicht einmal gegen Bezahlung starten!“
81,5 Kilometer, dabei laut Streckenprofil 2192 Höhenmeter Aufstieg und 1392 m
Abstieg - selbst im Sommer ist das nicht einfach, und ich hasse Kälte, vereiste
Wege und Schneematsch. |
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Keine Ahnung wieso, aber irgend etwas drängte mich in den nächsten Monaten,
dieses Video noch ein paar Mal anzuklicken, und die Laufberichte zur BC las ich
natürlich auch. Abschreckend! Absolut nichts für ein „Gfrörli“ wie mich, wie
meine Freundin zu Recht sagt.
Ich wusste, dass die Anmeldefrist am 1.11. beginnt. „Nur aus Interesse“ schaute
ich an dem Tag auf www.brocken-challenge.de , sah dass die Anmeldezahlen sehr schnell
in die Höhe stiegen - und schickte auch meine eigene Anmeldung ab. Einen Tag
später waren alle 145 Plätze bereits ausgebucht. Nichtläufer können es wohl nie
verstehen, wieso ich mich seit diesem Tag auf die Brocken-Challenge freute.
Die Brocken-Challenge ist keine kommerzielle Veranstaltung sondern ein
Benefizlauf. Organisiert wird er vom extra für diesen Zweck gegründeten
gemeinnützigen Verein ASFM e.V (Ausdauersport für Menschlichkeit e.V.,
Göttingen). Der komplette Erlös wird gemeinnützigen Zwecken gespendet, in diesem
Jahr dem Hospiz an der Lutter und der Bahnhofsmission Göttingen. Im Gegensatz
zum Eisweinlauf (siehe meine Reportage vom Dezember) läuft man hier aber nicht
gemeinsam, sondern es gibt eine Zeitmessung, allerdings keine Siegerehrung. Viel
wichtiger als die Zeit ist aber dennoch, dass möglichst alle ans Ziel kommen.
Inzwischen wird die BC sogar mit zwei Qualifikationspunkten für den Ultra Trail
de Mont Blanc geadelt. |
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Als im Januar das Wort „Schneechaos“ die Medien dominierte, die Schneehöhe auf
dem Brocken bis 135 cm stieg und dort oben zeitweise minus 27 C gemessen wurden,
gab es kaum noch Zweifel, dass nicht nur der letzte Abschnitt sondern die
komplette Strecke durch tiefen Schnee führt. Allmählich kam mir schon ein wenig
das Gruseln, aber ich freute mich noch immer auf diese Herausforderung. Was an den letzten zehn Tagen vor dem Start in der News-Rubrik der Homepage über
den Streckenzustand steht hat dann allerhöchsten Unterhaltungswert.
Am 26.1.
heißt es unter anderem: „Ohne Spikes (IceBugs), YakTrax oder ähnliche
Steighilfen und ziemlich feste Schuhe geht im Moment nichts.“
Am 2.2. stand zur
ersten Streckenhälfte: „...ca. 20cm Neuschnee auf den meist vereisten
Untergrund. Es bestehen sehr stark wechselnde Untergrund-Verhältnisse
(Tiefschnee-Spuren bis frei geblasene alte Eiskrusten, teilweise auch gut laufbare Fahrzeug-Spuren“, und beim Rest steht endgültig fest, dass ein Teil der
normalen Route wegen Schneebruchgefahr gesperrt sein wird, die Veranstalter also
kurzfristig versuchen müssen, eine neue Route zu improvisieren. Dazu soll ein 8
km langer Abschnitt frei gefräst werden, im Gegensatz zur restlichen Strecke,
die wie gewohnt unpräpariert bleibt. Aber bereits jetzt ist klar, dass die
endgültige Entscheidung über die Route (und ob wir überhaupt auf den Brocken
dürfen!) erst am Tag vor dem Start fallen kann.
Am 4.2. wird um 17:13 die Hiobsbotschaft verkündet, dass auch der Schneepflug
nicht durch kommt. Zwei Expeditionsteilnehmer versuchen dann, durch hüfthohen
Schnee eine Route zu spuren, brauchen aber für drei Kilometer drei Stunden!
Außerdem wird ein oberer Streckenabschnitt nach wie vor von der
Nationalparkverwaltung wegen Schneebruchgefahr gesperrt. Wir müssen weiter um
unseren Gipfelerfolg bangen!
Am 5.2., also am Tag vor dem Start wird dem
großartigen Improvisationsvermögen der Veranstalter, die schier Unglaubliches
leisteten (ganz großes Lob von allen Teilnehmern!) noch weiterer Einsatz
abverlangt, aber dann steht endlich fest: Wir dürfen morgen auf einer um ein
paar Kilometer längeren Strecke hinauf zum Brocken laufen. Hurra!
Am 5.2. treffe ich um 18 Uhr im Sport-Hörsaal der Uni Göttingen auf die vielen
anderen Verrückten, die ebenso wie ich so unvernünftig sind, bei diesen
Bedingungen auf den Brocken laufen zu wollen. Ich kenne Leute, die uns dafür am
liebsten in eine geschlossene Anstalt einweisen würden. Auch die Veranstalter
lassen sowohl mit schriftlichen Infos als auch bei der Vorstellung der Strecke
keinen Zweifel daran, dass es kein gemütlicher Volkslauf sein wird. Etwa ein
Drittel von uns will morgen erstmals die BC laufen, der Rest sind
Wiederholungstäter.
Als erstes lerne ich die auf extremen Distanzen äußerst erfahrene Ultraläuferin
Heike Pawzik kennen, die direkt hinter mir in der langen Warteschlange vor der
Startnummernausgabe steht.
Gleich nach Erhalt der Startunterlagen und Unterschreiben der mit
unmissverständlichen Warnungen versehenen Haftungsverzichterklärung geben wir
alle die Säcke mit trockener Kleidung und Duschzeug ab, denn die werden gleich
direkt hoch zum Brocken gebracht.
Sehr sympathisch finde ich, dass nach der Vorstellung der Strecke auch alle
Helfe sowie die zuständigen Leute der beiden mit Spenden bedachten
Organisationen persönlich vorgestellt werden.
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Dann fahren wir zu einem, ein Stück oberhalb der Stadt gelegenen Parkplatz, bei
dem morgen früh der Start ist und wo wir im Jägerhaus am Kehr übernachten
können. Wer wie ich mit der Bahn nach Göttingen kam, muss mit einem der
motorisierten Teilnehmer fahren. Heike nimmt mich mit nach oben, und ich kann
morgen auch meinen großen Rucksack mit Schlafsack, Isomatte etc. in ihrem Auto
lassen.
Etwa gegen 21 Uhr essen wir dann im rustikalen Ambiente des Jägerhaus zu Abend,
natürlich Pasta und Salat, was sonst?
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Einige Leute rollen ihre Schlafsäcke unten im Keller aus, für den Rest wird nach
dem Essen der Speisesaal leer geräumt, so dass wir alle Platz haben. Schlaf
finde ich vorerst nicht, denn ein paar Leute unterhalten sich noch bis nach
Mitternacht an der Theke recht lautstark.
Am nächsten Morgen geht um 4:20 Uhr das Licht an und wir werden mit
entspannender Musik geweckt. Schnell packen wir unser Zeug zusammen und gehen
hinauf zum alten Tanzsaal, wo es ein sehr reichhaltiges Frühstück gibt. Die
Atmosphäre in dem urigen Saal passt hervorragend zu diesem Lauf. Gewissermaßen
als Einstimmung auf unsere heutige Laufgeschwindigkeit stehen hier die beiden
langsamsten Kaffeemaschinen der Welt. Ok, es muss auch ohne viel Koffeindoping
gehen!
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Pünktlich um 6 Uhr werden wir dann in Nacht und Kälte geschickt. Überraschend
ist es gar nicht so kalt wie ich es erwartet hätte. Knapp unter 0 C, dazu fast
kein Wind. Ich bin froh, dass ich fünf Minuten vor dem Start noch meine warmen
Handschuhe und die dicke Mütze gegen die deutlich leichteren Versionen
ausgetauscht habe. Schnell setzt sich die Karawane der Stirnlampenträger in
Bewegung. Wie eine lange Polonaise von Glühwürmchen laufen wir auf einem
breiten, schneebedeckten Waldweg unserem noch 87 km entfernten Ziel entgegen. |
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Auf dem ersten Streckenabschnitt bis
Mackenrode sorgen am Wegrand in den Schnee
gesteckte Fackeln für eine wunderschöne Stimmung.
Gegen sieben Uhr wird es dann
langsam immer heller. Heute kommt aber keine richtige Morgenstimmung auf, denn
es bleibt grau und düster. Trotzdem können wir jetzt unsere Stirnlampen
ausschalten. |
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Bei Landolfshausen erreichen wir die erste Verpflegungsstelle. Ein kurzer
Aufstieg lässt uns dann für ein paar hundert Meter erstmals vom Laufen zum Gehen
überwechseln, aber bald wird es wieder flacher. Die Wege sind oft sehr vereist,
da der Schnee tagsüber angetaut und nachts wieder gefroren ist. Ich bin sehr
froh, dass ich den Rat der Veranstalter befolgte und mir vor einigen Tagen
Yak
Trax kaufte. Da gestern und vorgestern Tauwetter war können wir aber
zwischendurch auch insgesamt einige Kilometer weit auf Asphalt laufen.
Die in Grau gehüllte Landschaft strahlt eine enorme Ruhe aus. Abgesehen vom
Knirschen der Spikes auf dem verharschten Untergrund herrscht absolute Stille.
Ich genieße diese Stimmung. Ach wie ist es schön, in der Natur laufen zu dürfen! |
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Auf der ersten Streckenhälfte verteilen sich die Höhenmeter meist auf recht
flache Auf- und Abstiege, so dass man abgesehen vom viel Kraft zehrenden
Untergrund locker laufen könnte. Vor allem in der Gegend vom
Seeburger See ist
der Weg aber lange Zeit so vereist, dass ich wohl ohne die Yak Trax viel zu viel
Zeit und Kraft verloren hätte, vielleicht sogar gestürzt wäre. Auch viele andere
Teilnehmer laufen heute zum allererstem mal mit Spikes. Ich weiß nicht, wie
manche es hier mit normalen Schuhsohlen schaffen. |
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Meist laufen wir durch eine landwirtschaftlich geprägte flache Hügellandschaft.
Nur gelegentlich stehen kurze Ortdurchquerungen im Programm. In einem Dorf
schaut eine alte Dame aus dem Fenster und fragt mich verwundert, wo wir alle hin
laufen. „Von Göttingen hinauf zum Brocken“ antworte ich ihr. Sie stutzt und
fragt dann: "Und von dort aus, wo lauft ihr dann hin?" Ich hätte die Oma gleich
nach den nächsten Lottozahlen fragen sollen, denn sie hat eindeutig
hellseherische Fähigkeiten.
Auf lange Abschnitte entlang von Feldern folgen kurze Walddurchquerungen – eine
Gegend, die eigentlich überall in Deutschland sein könnte, heute dauerhaft mit
einem trüben Grauschleier belegt.
Nach der Tilly-Eiche folgt ein kurzer, sehr steiler Abstieg. Zum Glück eignet
sich ausgerechnet hier die Schneeoberfläche für einen schnellen Bergablauf fast
ideal. Bei Eis wäre diese Piste ein perfekter Knochenbrecher. |
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Jeder Teilnehmer bekam eine ausführliche Streckenbeschreibung sowie Wanderkarten
mit der eingezeichneten Route. Zusätzlich speicherte ich die Route auf meinem
GPS. Doch dank der guten Markierungen muss ich nie auf diese Hilfsmittel
zugreifen.
Bei der Rhumequelle, eine der ergiebigsten Karstquellen Europas, erreiche ich
bereits die dritte Verpflegungsstelle.
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Die Abstände zwischen mir und anderen Läufern wachsen. Immer mal wieder laufe
ich alleine, dann treffe ich wieder auf andere, man grüßt sich, wechselt ein
paar Worte, dann geht es wieder alleine weiter. Häufig laufen wir nun in tief im
Schnee eingegrabenen Fahrspuren, was aufgrund der schmalen Spur nicht ganz
einfach ist. Ich genieße das Laufen nach wie vor, und im Gegensatz zu meinen
starken Zweifeln der letzten Tage bin ich jetzt sicher, das Ziel innerhalb des
wegen der Streckenänderung von 14 auf 15 Stunden erweiterten Zeitlimits
erreichen zu können.
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