Tortour de Tirol – die schwarze Skipiste bergauf
Ein Laufbericht von Jochen Brosig
3 TAGE – 73 KILOMETER – 2200 HÖHENMETER. Das sind die nackten Fakten über einen
Etappenlauf der besonderen Art. Es handelt sich um die Tour de Tirol. Ein
Geheimtipp für ambitionierte Läufer. Also für ganz Durchgeknallte, um sich den
letzten Rest der vorhandenen Gehirnzellen abzutöten. Davon ist meine Läuferfrau
absolut überzeugt. Die Veranstaltung startet am Freitagabend mit einem 10
KM-Lauf. Zum Einlaufen sozusagen. Der Kaisermarathon (42,2 km) bildet die zweite
Etappe am Samstag. Mit einem Halbmarathon (21,1 km) am Sonntag klingt die
Veranstaltung dann gemütlich aus.
Anspruchsvoll, sage ich. Total bescheuert, sagt meine Frau. Der Alpbachtaler
Zehner, gestern, war zum Einrollen gedacht. Die große Prüfung erwartet mich
heute. Der Kaisermarathon. Für die Läufergattin ist der Kaisermarathon nur die
Deklination von Kaiserschmarrn. „Du wirst Deine sportliche Lektion am Berg schon
bekommen“, ist sie sich sicher. Aber nichts da. Dafür habe ich das letzte halbe
Jahr trainiert. Ich bin fit. Körperlich: Jeden Hügel um Röttenbach kenne ich
mittlerweile auswendig. Und Geistig: Laufberichte und Streckenbeschreibungen
habe ich zuhauf gelesen. Das Streckenprofil hängt seit Wochen neben meinem Bett.
Mein Trainingsplan liegt unter meinem Kopfkissen. Aus dem Internet habe ich mir
die Sprüche der Motivationstrainer geholt. Das Training zielt seit 3 Monaten auf
dieses Laufevent ab. Meine Familie wurde zu einem als Urlaub getarnten
Trainingslager in Kärnten überredet. Kilometer und Höhenmeter habe ich
gesammelt. Ein Höhentrainingslager als Trainingshöhepunkt bildete den Abschluss
der Schufterei. Und jetzt ist es so weit. Ich stehe am Start.
Unglaublich, ich der Flachlandtiroler hier zwischen den Ultras und
Bergspezialisten. Hoch konzentriert warten wir. Der Startschuss schickt uns auf
die Reise. Entschlossen laufen wir los. Meine Augen spannen sich zu kleinen
Schlitzen. Mein Gesicht sagt, wenn ich will, kann ich von hier bis nach Norwegen
laufen. Nur mit einem Stück Dörrfleisch in der Trikottasche. Das Feld zieht sich
schnell auseinander. Am Anfang noch locker und flapsig. Manch einer übernimmt
sich auf der ersten Hälfte. Später wird es steil. Der erste Anstieg zum
Hartkaiser bremst uns aus. Wir kämpfen uns hoch. Trittsicher. Der Kampf Mann
gegen Berg. Die Trinkflaschen sind mittlerweile leer. Ringsum die schroffen
Felsen, die steilen Abhänge, die Wiesen im Tal, der Wilde Kaiser vor mir – Kopf
und Blick nach oben zum Ziel gerichtet. Doch wir sind noch lange nicht oben. Die
nächste Verpflegungsstation ist weit. Keine Augen für die Schönheit der
Bergwelt.
Die Oberschenkel brennen. Berglaufen, die Königsdisziplin. Das ist schon etwas
anderes als Golf oder Schach. Oder mit dem Lift zur Bergstation. Den Rucksack
voller Wurstbrote. Also bitte nicht falsch verstehen. Ich habe nichts gegen
Schlafwandler. Aber Laufen ist schon etwas Besonderes. Die Wanderer entlang der
Strecke schauen uns entgeistert an, schütteln die Köpfe. Laufen ist schon etwas
Bescheuertes, sagen ihre Blicke. Weiter geht es, dem Gipfel auf der Hohen Salve
entgegen. Wir trinken und essen in der Bewegung. Nichts kann uns stoppen. –
Außer dieser Steilhang vor mir. 3,5 km mit exakt 689 Höhenmetern. Eine schwarze
Skipiste! Senkrecht vor mir ragt sie in die Höhe. Mein Blick geht langsam nach
oben. Der Hang findet kein Ende. Ungefähr 500 Meter über mir wird er
überhängend. Jetzt wird es ernst.
Schritt für Schritt kämpfen wir uns nach oben. Meine Füße kleben am Boden. Es
ist wie in einem Traum. Ich komme nicht von der Stelle. Im Zeitlupentempo
stolpere ich an Kilometer 41 vorbei. Ein Kilometer wird zur Unendlichkeit.
„Jetzt hast es glei!“, ruft jemand. Der Weg wird flach. Vor mir taucht das
42er-Schild auf. Die Zuschauer verdecken die Kurve zum Zielkanal. In meiner
Verzweiflung setze ich zum Zielsprint an und werde gestoppt. Hinter der Kurve
erwartet mich ein „Klettersteig“ auf den letzten zweihundert Metern zum Ziel.
Welch kranker Geist hat sich diese Strecke ausgedacht? Und einen Halbmarathon
soll ich morgen auch noch laufen?
Run happy and smile!
Euer Querläufer
Jochen Brosig |