30.07.2011 – Chiemgauer 100 -
Es gibt immer ein „noch weiter“ - Bildbericht von Günter Kromer |
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Samstagmorgen kurz vor 5 – abgesehen von den nach Hause torkelnden
Discobesuchern in den Großstädten und vier Dutzend bereits gestern gestarteten
Hundertmeilenläufern im Chiemgau schläft noch fast ganz Deutschland. Über den
Alpen weicht das dunkle Schwarz der Nacht einer zaghaften Andeutung der
Morgendämmerung. Noch kräht kein Hahn. Auf einem Sportplatz in Ruhpolding weht
eine kühle Brise um 98 Läufer, die wie Kühe in einem Stall darauf warten,
endlich hinaus auf die Weide gelassen zu werden. Die bei solchen Anlässen
üblichen Gesprächsfetzen schwirren durch die kalte Luft. Schuhe werden noch mal
neu geschnürt, Rucksäcke im letzten Moment umgepackt. Die gewohnten Rituale,
immer wieder schön! |
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Für manche, bereits Treppchenplätze gewohnte Läufer, geht es heute wieder um den
Sieg, andere zweifeln, ob sie überhaupt ans Ziel kommen werden. Für mich geht es
um nicht mehr oder weniger als um die Frage, ob heute meine seit Monaten im
Bewusstsein schwebende Illusions-Seifenblase platzen wird oder ob ich es
tatsächlich schaffen kann, innerhalb des Zeitlimits von 18 Stunden über die 100
Kilometer mit je 4400 Höhenmeter Auf- und Abstieg zu laufen. Im letzten Jahr
führten mich die 3000 Höhenmeter bei Sonthofen bereits an meine Grenzen, aber
2011 fühle ich mich deutlich besser in Form als je zuvor. Meine persönliche
Leistungsgrenze beim Erreichen der 3000 Höhenmeter beenden? Nein! Für mich
sollte es möglichst ein „noch weiter“ geben. |
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Erfunden wurde der Chiemgauer 100, der vor dem Zugspitz-Ultra als schwerster
Berg-Ultramarathon Deutschlands galt, von Giselher Schneider, kurz Gi genannt,
der selbst ein begeisterter Langdistanz-Läufer ist und ein Rennen nach Vorbild
der amerikanischen 100 Meilen Läufe nach Deutschland bringen wollte.
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Bereits im Frühjahr wurden die limitierten 100 Plätze für 100 km und 50 Plätze
für 100 Meilen verlost und eine Warteliste errichtet. Aufgrund von sage und
schreibe 60 Absagen konnten dann schließlich doch alle Leute aus der Warteliste
mit einem Startplatz versorgt werden. Aber es wäre fatal, wenn sich nächstes
Jahr alle auf einen nachträglichen Startplatz verlassen und sich nur wenige
frühzeitig anmelden. Ein bisschen Planungssicherheit braucht jede Veranstaltung.
Gestern Abend gab es die Pastaparty und das Briefing für die 100 km Läufer. Die
Hundertmeiler waren zu diesem Zeitpunkt bereits unterwegs.
Kurz vor dem Start können wir in übersichtlich sortierte Kartons Drop Bags
legen, die zu verschiedenen Verpflegungs- und Kontrollstationen transportiert
werden. Vor allem bei der Station Egg vor dem abendlichen Aufstieg auf den
Hochfelln macht Ablage von wärmeren Wechselklamotten durchaus Sinn. |
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Samstag um 5 Uhr starten 98 Läufer und Läuferinnen. Davon werden später 48
Männer und 8 Frauen die 100 km innerhalb des Zeitlimits schaffen, fünf Leute
kommen erst nach Zielschluss durch, der Rest steigt unterwegs auf kürzere
Distanzen um.
Die 46 Starter für die 100 Meilen sind bereits seit gestern unterwegs. Von ihnen
schaffen dieses Mal nur 15 Männer die volle Distanz.
Jeder weiß, dass die Strecke einige sehr anspruchsvolle Abschnitte enthält. Da
wir im Laufe des Tages nur an sechs Verpflegungsstellen sowie zusätzlich an
einigen Kontrollstellen mit Wasser vorbei kommen, muss jeder genügend zu Trinken
mitnehmen. Außerdem empfiehlt uns Gi, die Route als GPS, als Ausdruck des
Roadbook oder auf einer Wanderkarte mitzuführen, da erfahrungsgemäß auf einer so
langen Strecke auch Markierungen mutwillig entfernt oder aus sonstigen Gründen
verloren gehen können.
Das erste Hindernis, das heute bewältigt werden muss, kommt schon nach etwa 100
Metern. Ich glaube zwar nicht, dass es speziell als solches aufgestellt wurde,
aber es wirkt. Wir laufen vom Start aus zuerst ein Stück auf der Tartanbahn im
Stadion. Mitten auf der Bahn steht eine Bierbank. Im hier noch dichten
Läuferpulk entdeckt man sie erst fast wenn es zu spät ist. Ich kann ihr im
allerletzten Moment noch ausweichen, doch gleich darauf höre ich hinter mir ein
Poltern, und ein Läufer liegt auf der Bank.
Danach ist die Strecke auf den ersten Kilometern so richtig zum Entspannen und
langsam aufwachen. Eher Volkslaufcharakter statt der angekündigten alpinen
Grenzerfahrung. Noch sind alle Berge wolkenfrei.
Allmählich weicht die Nacht dem Tag. Irgendwo hinter den Bergen und Wolken geht
die Sonne auf.
Kurz vor sechs Uhr laufe ich zum ersten Mal durch tiefen Schlamm. Plötzlich
dreht sich der Läufer vor mir um und ruft: "Nicht mir nach! Ich muss nur mal
kurz austreten!" Tatsächlich war ich so in ein Gespräch mit einem anderen Läufer
vertieft, dass wir die eigentlich unübersehbar gut markierte Strecke verlassen
hatten und blindlings jemandem auf einen Seitenweg gefolgt waren.
Erst nach etwa einer Stunde laufen wir heute zum ersten Mal auf einem schmalen
Trail, doch bald folgen wieder normale Wege. Kurze Auf- und Abstiege wechseln
nun einander ab. |
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Schon etwa bei km 9,5 sehe ich weit vor und hinter mir keinen anderen Menschen.
Nur die Flatterbänder neben dem Weg zeigen mir, dass ich noch auf der richtigen
Strecke bin. Doch bald überhole ich wieder jemanden und werde von anderen
überholt, wie es auch für den Rest des Tages sein wird. Trotz der zwangsläufig
wachsenden Abstände zwischen den Teilnehmern bleibe ich bis zum Schluss nie
allzu lange alleine, bis ich wieder auf andere Läufer treffe.
Nun senken sich die Wolken immer tiefer auf die Berge. Die Hoffnung auf
Schönwetter schwindet.
Nun beginnt ein erster Wegabschnitt, wegen dem wir beim Briefing vor
Absturzgefahr gewarnt wurden. Am Alpensteig von Zwing hinauf zur Kaitlalm sollen
wir vorsichtshalber gehen statt laufen. Ein Fehltritt auf dem rutschigen,
schmalen Steig könnte fatale Folgen haben, aber im Grunde finde ich diese
Passage nicht allzu schwer, zumal die besonders ausgesetzten Stellen mit Seilen
gesichert wurden. |
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Um 7 Uhr beginnt starker Regen, der nun viele Stunden lang mehr oder weniger
pausenlos anhält.
Die erste Kontrollstation steht auf der Kaitlalm. Trotz dem Regen werden wir
hier oben von gut gelaunten Frauen empfangen. Das ist heute mal wieder besonders
schön. Da stehen die Leute stundenlang in der Kälte, aber sie scheinen ihren
Spaß zu haben und begrüßen alle Läufer wie gute Freunde. Hier fühlt man sich so
willkommen, dass man manchmal gar nicht weiter will. Obwohl die
Kontrollstationen offiziell nur Wasser anbieten, bekommen wir an vielen auch eine
kleine Auswahl an Verpflegung.
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Nun können wir 9,5 km weit auf einer bequemen Forststraße bergab zurück nach
Ruhpolding laufen.
Nach insgesamt 26 km mit nur 540 Höhenmetern erreichen wir wieder das Stadion.
Dort wurde der Start/Zielbereich zur ersten großen Verpflegungsstelle
umgewandelt. Das Getränke und Speiseangebot beim Chiemgauer ist außergewöhnlich.
Man merkt, dass Gi die unterschiedlichen Geschmäcker der Ultramarathonis kennt.
Für jeden ist heute etwas dabei. Bananen, Äpfel, Orangen, Melonen, Wurst- und
Käsebrötchen, Riegel, Rosinen, Kartoffeln, Kekse, Kuchen, Schokolade,
Salzstangen, Gummibärchen, Essiggurken, Tomaten, getrocknete Pflaumen, Salz,
Nüsse, Magnesiumtabletten, an einigen Stationen auch warme Suppe.... hier muss
niemand hungern. Und die Getränkeauswahl umfasst auch genügend Cola und -
bereits unterwegs, nicht erst im Ziel - alkoholfreies Bier.
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Gi sagte gestern Abend: „Wenn die erste Runde schon schwer fand, der sollte
besser nicht zur zweiten starten“. Wahre Worte! Nach dem leichten Vorspiel geht
nun der Chiemgauer erst richtig los. Zuerst laufen wir recht angenehm über
Wiesen und durch Wald aufwärts. Die Berge um uns herum werden weitgehend von
Wolken verhüllt.
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Dann beginnt der erste Aufstieg geradeaus eine Skipiste hinauf. Auf Fotos sieht
so etwas immer flacher aus als es beim Steigen wirkt. Auf halber Höhe der
Skipiste führt uns die Streckenmarkierung nach rechts in den Wald, wo wir uns
nun kaum weniger steil auf Wurzelwegen hinauf mühen. |
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Oben am Unternbergsattel umgibt uns statt schöner Aussicht trübsinniger Nebel.
Eine Weile können wir nun auf einem breiten Weg bergab laufen. Dann beginnt der
erste Streckenabschnitt, der dem Chiemgauer seinen besonderen Ruf verschafft.
Bei trockenem Wetter ist der Weg zur Simandl Alm sicher nicht so schwer, aber
Schild „Weg bei Nässe nicht begehbar“ hängt völlig zu Recht hier. Für
schlammliebende Trailrunner wie mich klingt dies wie eine Einladung. Gleich von
Anfang an erkenne ich, dass die Warnung absolut nicht übertrieben ist. Für
normale Wanderer kommt so eine grandiose Tiefschlammpampe nur in ihren
Alpträumen vor. Für mich dagegen sind solche Wegabschnitte normalerweise eine
willkommene Auflockerung des Trailabenteuers. Heute allerdings weiß ich, dass
solche Abschnitte meinen Kampf mit dem niedrigen Zeitlimit noch mehr erschweren.
Landschaftlich gefällt es mir hier oben trotz Nebel recht gut. Wie schön muss
dies bei Sonnenschein sein! "Malerische Ausblicke" schrieb Gi ins Roadbook. Aber
er schrieb auch "Stellenweise Absturzgefahr".
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