GUCR – 145 Meilen, die ich niemals vergessen werde …
336 Gramm schwer ist sie, die Medaille des GUCR, des Grand
Union Canal Race, 1,5 Gramm für jeden einzelnen Laufkilometer. Es ist die
schwerste Medaille, die ich je erhalten habe unter den vielen, die es sich in
meiner Medaillen-Schublade gemütlich gemacht haben.
Da darf diese Medaille aber nicht rein, sie bekommt einen ganz eigenen, einen
echten Ehrenplatz, immerhin ist sie auch am schwersten verdient worden.
20 Jahre GUCR
Das
Grand Union Canal Race (GUCR)
ist schon ein Klassiker im Ultralauf-Kalender. Ich habe bei Norman Bücher zum
ersten Mal von diesem Lauf gelesen und ich war seither gierig danach, auch
einmal dort zu laufen. 2014 gab es nun die 20. Austragung dieses mit 145 Meilen
(ca. 233 Kilometern) extrem langen Laufs von Birmingham nach „Little Venice“ in
London. „Little Venice“ ist dabei ein kleines Inselchen ganz nahe der berühmten
Paddington Station.
Den Läufern wird geraten, über eine eigene Support Crew verfügen zu können, ich
aber war einer der “unsupported runners”, mental und materialmäßig also auf mich
selbst gestellt.
Beim GUCR ist es nicht im Wesentlichen die Länge der Laufstrecke, die Dir zu
schaffen macht. 233 Kilometer sind kaum mehr als die Strecke bei der
TorTOUR de Ruhr oder beim
JUNUT und die Maximalzeit von 45 Stunden liegt auch
zwischen den 38 Stunden der TTdR und den 52 Stunden des JUNUT, alles machbar.
Ein echtes Höhenprofil gibt es auch nicht, Kanäle sind nun mal meist flach. Da
bilden die vielen „Locks“, die unzähligen Schleusen, schon eine Ausnahme. Aber
mehr als vielleicht drei Meter geht es dort auch nicht nach oben.
Was das GUCR zumindest 2014 so besonders gemacht
hat, war das Wasser. Nicht das Wasser im Kanal, in den schon mancher, der in der
Nacht übermüdet entlang torkeln wollte, hinein gefallen ist, es war das Wasser
von oben.
Kurz nach dem Start freute ich mich noch, dass die Wettervorhersage für den
Freitag (99% Niederschlagswahrscheinlichkeit) doch übertrieben schien, aber
schon nach wenigen Kilometern beschloss der Wettergott, mich Lügen zu strafen
und uns und unsere Laufstrecke ausgiebig zu wässern. Das war kein Wolkenbruch,
kein extremer Regen, der kurz und heftig war, es war der gefürchtete englische
Dauerregen, der uns bis tief in die Nacht zum Samstag begleitete.
Mit einer Schirmmütze bewaffnet spürte ich den
Regen nur mäßig, nicht genug jedenfalls, um anzuhalten und mir meine Regenjacke
heraus zu kramen und anzuziehen. Das hätte ja auch locker fünf Minuten gekostet
… Ich lief also „kurz / kurz“, wie man das so schön nennt, nur gelegentlich zog
ich mir die Armlinge ganz nach oben.
Keine Schirmmütze aber hatte der Trail, der ungeschützt im Regen lag. Und
unsereiner hatte deshalb stets die spannende Frage zu beantworten, ob man
versucht, an den schlammigsten und nassesten Passagen die Schuhe zu schonen,
dann aber trotzdem immer wieder neu nasse Füße bekam, oder ob man sich sagte,
„einfach durch“ ist auch eine Technik.
Wie auch immer man sich entschied, nasse Füße waren immer da und was damit
passiert, das kennt ja jeder Läufer. Die Haut wird weich, die Füße schwellen an,
die Blasen kommen. Und mit den Blasen kommen dann auch die Schmerzen. Und was
bei einem 4-Stunden-Marathon schlimm ist, ist bei einem 40-Stunden-Ultra nicht
besser …
Der Start
Dabei hatte alles so gut angefangen. Noch nie gab
es eine so große deutsche Delegation beim GUCR. Und unter der Führung von
Christian Hottas gab es dank der großzügigen Spende von ARTIVA einheitliche
Laufbekleidung für die gesamte deutsche Delegation.
Außer Christian waren das noch Christine Schroeder, Heike Bergmann, Imke
Siegerist, Bernd Rohrmann, Peer Schmidt-Soltau, Tammo Seemann und ich.
Eine große Versammlung mitten in Birmingham am
Kanal, ein paar nette einleitende Worte, viel Glück gewünscht und los ging es.
Und wir Deutschen starteten weit hinten, vorsichtig und langsam, mit Ausnahme
von Heike und Tammo, weil Heike den Streckenrekord angreifen wollte, was bei dem
vielen Wasser aber nicht machbar war und Tammo, weil er, obwohl nicht in der
Liga einer Heike Bergmann laufend, eben mal 50 Kilometer mit ihr rennen wollte.
Dass das ein Fehler war und dass die Rechnung dafür erst nach 100 Meilen
präsentiert wurde, versteht wohl jeder, der schon mal etwas längere Strecken
gelaufen ist.
Ich versuchte, bei Peer und Bernd zu bleiben und
schnell hatten wir Christian, der den GUCR schon sechs Mal finishen konnte und
Christine, die auf dem Weg zu ihrem sechsten Finish dort war, eingeholt.
Aber einmal kurz nicht aufgepasst und in den eigenen Trance-Schritt verfallen,
waren Bernd und Peer hinter mir und außer Sichtweite. Ich sah sie auch danach
leider nicht mehr wieder.
Ein knappes Jahr nach dem 250 Miles Thames Ring
Race vom Juli, teilweise an gleicher Stelle, war ich erstaunt, so viele bekannte
Gesichter erneut zu sehen. Es schien, als wären alle Läufer von damals für das
GUCR zwangsverpflichtet worden. Das war sehr schön für mich, hatte ich doch
Gelegenheit, mit Knut, mit Bob, mit Gunnlauger, mit Rajeev, mit Javed und mit
vielen anderen zu plauschen.
Mit Gunnlauger bin ich damals durch die erste Nacht gelaufen, es war sehr schön,
ihn wieder zu sehen.
Robert „Bob“ Lovegrove war auch am Start. Untertrainiert, wie er mir schon vor
dem Rennen schrieb, aber dennoch. Mit ihm, meinem Partner beim 2010er PTL,
verbindet mich so viel und ich schwärme immer noch von dem VP nach vielleicht
150 Meilen im letzten Jahr, wo er mich dort besuchen kam und mit mir eine kalte
Cola und ein kleines Mahl einnahm und wir gemeinsam in alten Erinnerungen
schwelgten. Er ist ausgestiegen aus dem Grand Union Canal Race, wie viele der
mehr als 110 Starter, von denen es schlussendlich 61 in die Wertung geschafft
haben.
Für die Umstände des Laufs, für die Länge und verglichen mit den Quoten bei
anderen englischen Rennen war das eine recht hohe Finisherquote. 61 Mal 336
Gramm Medaillen, fast 41 Pfund Medaillenmaterial wurden sich da hart verdient.
„Laktat macht blöd“ und andere Ausreden
„Laktat macht blöd“ heißt es ja so schön und
hinter diesem Satz kann ich immer gut meine dummen Fehlerchen verstecken. Mein
Kopflicht war mein „running fault“ als „running gag“. Am Start nervte ich meine
Frau noch damit, dass mir der Gedanke durch den Kopf schoss, das Kopflicht nicht
bewusst eingepackt zu haben. Schnell der, die, das Drop-Bag durchsucht, ohne
Erfolg, meine Frau noch einmal ins Hotel zurück geschickt, ohne Erfolg, lief ich
also los und wusste nicht, ob ich in der Nacht überhaupt Licht haben würde.
Gegen Nachmittag schaute ich dann meinen Drop-Bag
intensiv durch und ich fand sie in einer Tüte, zusammen mit allem, was ich mir
für die Nacht zusammengestellt hatte. Drei Ampullen „Activator“, die alles
enthalten, was mit –in aufhört (Taurin, Koffein, Purin, Heroin …), dafür aber
wirklich wach hält, Handschuhe und eine warme Mütze und zwei Kopflichter, ein
kleines leichtes für die Not, ein großes schweres für die Nacht. Doof, wenn man
beide im Hotel vergessen hätte.
Ich küsste die Tüte und legte sie neben mich.
Später dann, als ich wieder unterwegs war, ohne Kopflicht natürlich, wusste ich
nicht mehr, ob ich die Tüte aus Versehen wieder in den Drop-Bag gepackt oder auf
dem Tisch liegen gelassen hatte.
Ein VP später küsste ich die Tüte erneut, sie war
im Drop-Bag. Und Tammo war auch da am VP und ich versprach Christian, Tammo
durch die Nacht zu bringen. Wir sind sehr viel gegangen in dieser Nacht, Tammo
bekam gerade die Rechnung für das viel zu schnelle Loslaufen präsentiert, eine
gute Gelegenheit, mal intensiver miteinander zu reden.
Nach der Nacht war ich wieder allein. Tammo wollte
noch kurz im VP bleiben, ich wollte langsam weiter gehen, langsam bedeutete
dann, dass ich so „rumgeschneckt“ hatte, dass ich dachte, jeder der anderen
Läufer würde mich sofort ein- und überholen, manche taten das auch.
Der Sonntag war trocken, aber eben nur von oben,
die Wege waren noch matschiger und nasser als am Tag zuvor. Gelernt habe ich,
dass ein Trail, wenn er nur lange genug gewässert wurde, stets ein
Matschparcours werden kann.
Grandios waren aber die anderen Läufer. Da war zum
Beispiel Derren, der mir netterweise eine seiner zwei kalten Sprite-Fläschchen
abtrat. Was für ein Genuss, war für eine Erfrischung!
Und da war Colin, der mir, als ich nicht mehr gehen, sondern nur noch humpeln
konnte, seine Crew anbot, mich zu tapen. Das war am vorletzten VP und dank des
Tapes, das einfach quer unter meinen linken Fuß geklebt wurde, ging es dann
zunehmend besser.
Die Trails des GUCR
Matschwege, kilometerlange Wege durch hohe
Schafgarben, Schleusen, die mich immer wieder faszinierten und die besonders
schön waren, wenn sich gerade mal wieder ein Hausboot-Besitzer von einer
Schleusenseite zu anderen geschleust hat, Brücken, teilweise wunderschöne, immer
wieder den Kanal rechts oder links von Dir, stundenlang und nicht am Horizont
enden, und ganz viele Punkte, an denen diejenigen, die eine Crew dabei hatten,
immer wieder stehen und warten konnten, um ihre Matadoren anzufeuern, zu
versorgen und zu pushen. Für uns „unsupported runners“ gab es natürlich auch
immer wieder einen Satz Motivation seitens dieser Crews.
Und zu manchen der Crew-Mitglieder baute man sogar
eine Art Beziehung auf, wenn Du das Gefühl hattest, dass sie Dich erkennen und
Dir Glück wünschen.
Es muss ein echtes Erlebnis sein, als Zuschauer die selbstbewussten und
siegessicher aussehenden Läufer vom Anfang sukzessive schwächer und jammernder
zu erleben. Ein wenig mit leiden mit mir mussten diese Zuschauer also schon, ich
kann ja schlecht alles alleine machen.
Malerische Ansichten ...
... und ein Postkartenmotiv!
Außer am ersten und am letzten VP wurden die
Drop-Bags immer von VP zu VP gefahren. Dahinter steckte eine ausgeklügelte und
wirklich perfekte Organisation. Du kamst rein in den VP, bekamst Deine Tasche
und sobald Du gesagt hast, dass Du damit fertig bist, wurde sie schon wieder
verladen und abtransportiert. Solch einen Service zu erleben ist mehr als nur
Luxus, es ist der Läuferhimmel, das Nirvana der Ultraläufer. Danke an dieser
Stelle auch dafür an Dick und sein riesiges Team.
Der Flug nach „Little Venice“
Am letzten VP gönnte ich mir noch einmal etwas zu
essen, ich ließ drei Läufer vor mir ziehen und humpelte dann hinterher, aß im
Humpeln, bis ich mir dachte, dass ich eigentlich gar nicht zu humpeln brauchte.
Also trabte ich an, tippelte ich, bis ich zwei von ihnen einholen konnte. Das
waren Andrew, der Lebensgefährte der Siegerin und Ellen und wir gingen, deutlich
zu langsam für mich, eine Weile noch zusammen.
Irgendwann sagte Andrew, dass es jetzt nach seiner Garmin nur noch 7,6 K seien.
Ich wollte das nicht glauben und zeigte ihm, wo wir auf der Karte waren und dass
es meiner Ansicht nach noch 10 Meilen weit sei, noch 10 Meilen gehen? Das wollte
ich auf keinen Fall.
„I will speed up a little now“ sagte ich dann
irgendwann zu den beiden und begann wieder zu tippeln, zu traben, zu laufen. Und
nun, wo es ja nur noch knapp 10 Meilen waren, wurde ich schneller und schneller.
Ich packte noch einmal alles aus, was ich schon gar nicht mehr in mir vermutete
und ich überholte noch weitere vier Läufer.
Die Karte mit dem Weg fiel mir dann in den Kanal, ich wusste nur, dass ich mich
nicht mehr verlaufen konnte und dass das Ziel irgendwo im Hafen ist. Wir waren
ja in der Stadt London und so gab es schöne Häuser rechts und links des Kanals.
Es gab aber auch Unmengen an Abfall, neben dem Weg, im Kanal und auch auf dem
Weg. Phasenweise schämte ich mich für diejenigen, die gleich ganze Müllberge von
zu Hause einfach neben dem Weg abstellten.
Ich lief und staunte, aber ich wollte nun endlich
drin sein. Der Akku der Uhr hatte schon länger aufgegeben und ich fragte mich,
wo genau ich jetzt wohl wäre. Und da war auch einer mit einem
145 Miles GUCR – T-Shirt. „Wie weit ist es noch?“ fragte ich ihn und er lachte.
„You are almost there!“ Ich wähnte mich im Ziel. „Only
two more miles!“ Zwei Meilen noch? Doch nicht “almost there”,
aber die werde ich auch noch hinbekommen. Noch einmal etwas schneller, zwei
Meilen, vielleicht noch 15 oder 18 Minuten, so schnell, wie ich wieder war. Ob
ich es noch unter 38 Stunden packen könnte?
Nach mindestens einer Meile sah ich wieder
Menschen in den schönen T-Shirts. Die müssen es ja wissen, dachte ich mir und
ich fragte erneut, wie weit es noch sei. Die Jungs jubelten mir zu und sagten,
dass ich es gleich geschafft hätte, nur noch vielleicht 3 Meilen!
Jetzt begann ich die letzten Kilometer zu hassen. Und ich finde, ich hatte auch
ein Recht darauf. Aber ich lief weiter, ständig über mich selbst staunend. Woher
kam die Fähigkeit zum schnellen Laufen plötzlich?
Dann war ich da, dachte ich, das Zentrum, rechts ein Park, vor mir ging es ein
Brückchen hoch, da kann es nicht mehr rauf gehen.
Und wieder ein T-Shirt-Träger. Und wieder meine Frage. Und wieder eine Antwort,
die erste, die richtig war. „Only a couple of miles!“ Das traf mich tief und ich
fluchte innerlich.
Es ging einige Brückchen rauf und wieder runter und ich rannte und rannte.
Irgendwann überholte ich auch noch Derren, damit hatte ich überhaupt nicht mehr
gerechnet. Er war überrascht ob meiner Wandlung vom Humpler zum Läufer und
wünschte mir noch Glück. Und dann war es mir auch egal, wie lange der Weg noch
war. Die 38 Stunden waren lange schon vorbei, und so dachte ich: „Irgendwann
würde er enden“, irgendwann würde ich erlöst und glücklich sein.
Und irgendwann sah ich dann tatsächlich das weiße 3x3-Meter Zelt und das süße
Wort „FINISH“ auf einem großen Banner. Und ich rannte hinein und die Uhr blieb
bei 38:36 Stunden stehen, immerhin. Mein Ziel war es am Anfang, unter 40 Stunden
zu bleiben, nach 100 Meilen aber dachte ich noch, es vielleicht sogar in unter
36 Stunden zu schaffen.
Im Ziel
Christian beglückwünschte mich, fotografierte,
Dick gratulierte, meine Frau drückte und herzte mich und ich bekam einen Stuhl,
ein Getränk und 336 Gramm Medaille.
Die wenigen Meter bis zur U-Bahn Paddington Station musste ich mich stützen
lassen und eine Passantin fragte mich, ob alles OK wäre. Ich muss schlimm
ausgesehen haben in dieser Phase.
Aber ich war vor allem stolz und glücklich, fast noch stolzer und glücklicher
als nach den 250 Meilen im Vorjahr.
An mein „nie wieder“, das ich noch im Ziel äußerte, kann ich mich schon kaum
mehr erinnern und ich bin sicher, dass ich dem Ruf des GUCR 2015 wieder folgen
würde, wenn er mich denn erreichen würde.
Bis auf Christian, dem an einem VP lediglich 12 Minuten zum Cut-Off fehlten und
danach unser Coach, Betreuer, Motivator und Mentor war und Imke schafften alle
Deutschen das Rennen am Grand Union Canal.
Heike wurde mit 33:18 Stunden zweite Frau, Tammo erreichte das Ziel nach 41:09
Stunden, Bernd und Peer liefen kontrolliert nach 41:39 Stunden ein und Christine
blieb mit 42:54 Stunden auch sicher und deutlich vor dem Cut-Off.
Gunnlauger war wie im Vorjahr wieder vor mir, Knut scheiterte wie im Vorjahr am
Cut-Off, eigentlich war vieles wie erwartet.
Es war also ein großes Wochenende für das „Team Germany“, ein Wochenende, das
bei eBay wohl die Bewertung: „Alles prima. Jederzeit wieder!“ verdient hätte. |