Madeira Island Ultratrail vom 10.04. - 11.04.2015
Früher hatte ich oft den Wunsch, eine „perfekte Insel“ zu
bauen. Sie sollte vor allem warm sein, also im Süden liegen, aber nicht allzu
heiß sein, also nicht allzu südlich. Sie sollte viel Wasser haben und das würde
ich mit Kanälen überall hin verteilen. Auch dadurch wäre diese Insel grün mit
vielen Bäumen und Blumen. Diese Insel sollte aber vor allem bergig sein, so,
dass man eben Trailrunning betreiben kann.
Jetzt glaube ich, diese Insel nicht mehr bauen zu müssen, ich habe sie gefunden:
Madeira.
Madeira ist portugiesisch und
liegt 900 Kilometer von Portugal und 600 Kilometer von der marokkanischen Küste
entfernt. Wasserfälle und Bäche gibt es zu Hauf und die Kanäle, die das Wasser
überall hin verteilen, heißen Levadas und sie sind allesamt belaufbar. Es sind
die wirklich wenigen flachen Abschnitte, alle anderen Wege sind steil, noch
steiler oder, wie die Bayern sagen würden „sakrisch steil“. Und nicht zuletzt
diese Levadas und der endemische Laurissilva Wald verschafften Madeira einen
Platz in der UNESCO World Natural Heritage Liste.
Die ideale Insel also für mich und für den MIUT, den
Madeira Island Ultra Trail, ein
Bewerb, von dem ich schon viel gehört hatte, aber besuchen durfte ich ihn bisher
noch nie.
Schon das Studium der Ausschreibung zeigte, dass vier Distanzen angeboten
wurden, zwei Ultras, den MIUT 115 und den Ultra 85, zudem zwei Trails unterhalb
der Marathongrenze, der Trail 40 und, vor allem für Einsteiger, der Trail 17.
Ich entschied mich wie immer für die längste Strecke, obwohl ich heute einräumen
muss, dass der Ultra 85 auch eine schöne und wertige Alternative gewesen wäre.
Enden tun alle Strecken am gleichen Punkt, gelaufen wird also immer auf der
gleichen Strecke, nur der Beginn ist, je nach Distanz, unterschiedlich. Beim
MIUT 115 durchläufst Du die gesamte Insel von Nordwesten nach Südosten, von Port
Moniz nach Machico, von Küste zu Küste und Du bewältigst dabei 6.800 Höhenmeter
rauf und wieder runter. Schöne, harte und wirklich echte 6.800 Höhenmeter.
Was Du für Dein moderat gehaltenes Startgeld bekommst ist ein Event, das nicht
nur deshalb ein „must have“ in jeder Laufagenda ist, weil es Teil der „Serie“,
Teil der „Ultra Trail World Tour“ ist, sondern weil es Dich bis zu Deiner
physischen Grenze fordert, Dich in wunderschöne Landschaften führt, das Dich
Treppen lieben oder hassen lässt und bei dem Du Ausblicke hast, wie sie so
zauberhaft selten sind.
Im Starterbeutel findest Du ein Startershirt, die Teilnahme an der Pasta-Party,
deren Qualität zum Besten gehört, was ich jemals als Pasta-Party erlebt habe und
die Transporte von Dir vom Ziel zum Start und von Deinen Drop-Bags. Üppig viel
Leistung also, von einem riesigen Team höchst engagierter und motivierter
Menschen dargebracht.
Der Start des MIUT war Samstagmorgen um 0.00. Ich reihte mich weit hinten ein,
weil mir die große Zahl an DNFs in den letzten Jahren zu denken gegeben hat. Als
eher durchschnittlicher Trailrunner hatte ich mir die Zeiten 8.00 Uhr beim Start
des Ultra 85, 15.00 Uhr beim Drop-Bag K 60, 20.00 beim Start des Trail 40 und
2.00 Uhr beim Start des Trail 17 stets im Kopf.
Es war ein riesiges Erlebnis, die lange Schlange von roten Rücklichtern vor mir
zu sehen und es ging auch gleich stramm nach oben. 350 Höhenmeter waren zu
bewältigen und die ging es danach auch gleich wieder runter.
Ich hatte mich entschieden, mit meinem Freund Eric zu starten, damit wir uns
beide etwas zügeln und uns nicht von der Anfangseuphorie anstecken lassen
würden.
Der Start um MItternacht
Dann ging es 1.100 Meter hoch, den ersten der vier wirklich langen und scheinbar
unendlichen Anstiege. Dabei wurde dieser Anstieg auf ca. 850 Metern Höhe durch
eine lange Passage unterbrochen, in der flach neben verschiedenen Levadas
gelaufen wurde. In der Nacht, nah am Vordermann und nah am Hintermann,
einigermaßen schnell gelaufen, musst Du Dir da schon im Klaren sein, wo Du Deine
Füße hinsetzt. Nasse Füße sind da noch das Harmloseste, was Du Dir holen kannst.
Aber es ist ein einzigartiges Gefühl, diese Passagen zu laufen. Wir liefen da in
einem Sechser-Zug hinter zwei Portugiesen und die beiden zogen uns einfach mit,
vielleicht etwas schneller, als ich sonst gelaufen wäre. Beim anschließenden
Berg rauf zum ersten von insgesamt 14 Kontroll- und Versorgungsstellen aber
waren die beiden uns zu langsam.
Runter ging es und wieder rauf, wieder rund 1.100 Höhenmeter, alles war noch
dunkel und ich bedauere sehr, dass man die Landschaft, die auch im Dunklen einen
großartigen Eindruck machte, nicht im Hellen bewundern konnte.
Vielleicht aber auch nicht. Vor diesem Downhill runter zum CP2 hatte man uns im
Briefing gewarnt: „… very technical!“ Gut, da kann man viel drunter verstehen.
Aber er hatte es wirklich in sich, dieser Abstieg und dass im Tal schon wieder
eine Verpflegung war hatte seinen Grund.
Diesen zweiten Anstieg zum CP 3 in Estanquinhos auf 1.500 Metern Höhe war
gleichzeitig auch der Start des Ultra 85. Eric und ich erreichten das
Hochplateau davor kurz vor sieben Uhr, dem Start des anderen Bewerbs. Wir
konnten die Musik hören und dann das runterzählen, bis es da los ging. Zu gerne
hätte ich dort noch ein paar Lauffreunde gedrückt, ganze 5 Minuten fehlten uns
jedoch dazu. Zum Trost konnte ich meine Sorge begraben, dort so durchzulaufen,
dass uns wenig später all die Cracks auf dieser Strecke im Eilzugtempo überholen
würden.
Hier wäre auch der erste Cut-Off gewesen.
Noch war es bitterkalt und wir machten nur eine ganz kurze Rast. Zitternd liefen
wir wieder weiter, runter. Schon kurz danach konnten wir die Kopflichter
löschen, die Sonne kam und mit ihr die Wärme. Und ein faszinierender
Streckenabschnitt, der Zauberwald. Scheinbar abgestorbene Bäume, überwuchert mit
Flechten, Levadas und Tunnel, die in die Felsen gehämmert waren, teilweise so
lang, dass ich mir die Kopflichter wieder gewünscht hätte.
Es gibt kein schöneres Stück Land auf dieser Erde, dachte ich und ich bremste
Eric, weil ich unbedingt alle fünfzig Meter fotografieren wollte, nein, musste.
Wie kann man, dachte ich, auf Madeira sein und diesen Teil der Insel nicht
besichtigen, nur, weil da keine Straße hinführt?
Aber solche Gedanken würden ja zu weit führen und wieder unten beim nächsten,
dem vierten, CP, wollte ich wieder schnell weiter. Nicht wegen der Kälte,
mittlerweile war es warm und hell, aber ich wusste, dass nun der längste Anstieg
kommen würde und ich dachte mir, dass mir die 50 Minuten Puffer, die wir vor dem
Cut-Off hatten, zu knapp schienen.
Eric aber wollte noch bleiben und ab dann lief ich alleine weiter.
Ab dann wurde es einfacher und nach einem Downhill runter zum CP 6, zum zweiten
Cut-Off, zum Drop-Bag, zu einer Dose Energy-Drink für sofort und zwei Dosen zum
Mitnehmen für die Nacht, rüstete ich mich für den bis dahin schwersten Teil der
Strecke, rauf auf den Pico Ruivo und rüber zum Pico do Areeiro, dem höchsten
Punkt der Insel.
Dabei begann es heiß auf der Straße, aber dann folgte eine Trail-Passage, eine
Wasserpipeline entlang, und die war „steil hoch zehn“, wie man so schön sagt.
Unglaublich brutal, ich wurde immer langsamer und sah meinen Zeitpuffer
schmelzen, obwohl mich nur ein Läufer dort überholen konnte. So schlecht kann
ich also da doch nicht gewesen sein.
Aber Gnade vor Recht, dachten sich wohl die Macher des Trails und nach einigen
Hundert Höhenmetern erlöste man uns von diesem senkrecht auf den Berg Trail, um
nach rechts abzubiegen. Dieser Teil mit schroff in die Steine eingehauenen
Stufen wäre noch länger weiter gegangen, zum Glück aber eben nicht für uns.
Der Pico Ruivo war dann recht leicht erreicht und der Pico do Areeiro, kaum
höher als der Pico Ruivo, konnte auch nicht schwer zu erreichen sein. Einen
Konteranstieg sah ich im Profil, aber nur vielleicht 100 Höhenmeter lang.
Was nun aber wirklich folgte, war eine Mischung aus ungläubigem Staunen über die
Härte der Strecke und aufkeimender Begeisterung über die Faszination dieser
insgesamt wahrscheinlich schönsten fünf Kilometer des MIUT 115 und des Ultra 85.
Es ging über in die Felsen eingebohrte Treppen, durch dunkle Tunnel, über
kniehohe, wieder aufwändig in den Fels gehauene Stufen, rauf und runter und ich
war vor allem froh, dass ich für diesen Abschnitt einen neuen Laufpartner
gefunden hatte, einen Portugiesen, der auch einige Worte Englisch reden konnte.
In diesem Streckenabschnitt wusste ich nicht, ob ich mir wünschen solle, dass
das endlich zu Ende sei, weil die Muskeln immer mehr verhärteten oder ob ich mir
wünschen sollte, dass dieser Abschnitt niemals enden würde. Ich hätte die
Felsen, die Leitern und Treppen, die Steinstufen, meinen neuen Laufpartner und
die Tunnels küssen wollen, ich schwebte auf „Wolke 7“. Trotz des Schwebens
mussten meine Oberschenkel unglaublich harte Arbeit verrichten und sie wurden
immer saurer.
Auf dem Pico do Areeiro, dem Startpunkt des Trail 40, war dann erst einmal die
Schönheit der Strecke vorbei und ich bedauerte zutiefst die Läufer des Trail 40,
dass sie diesen vorherigen Abschnitt nicht mitbekommen hatten. Wenn Du jemals
auf Madeira laufen willst, dann nimm einen der beiden längeren Bewerbe, verpasse
nicht diesen Traumpfad zwischen diesen beiden Gipfeln!
Von nun an ging es fast nur noch runter und insgesamt kamen nur noch 600
Höhenmeter dazu.
Der Trail verlief über eine Wiese, sehr alpin, man hätte sich denken können, in
der schönen Schweiz zu sein. Nett, aber nach so einem landschaftlichen Highlight
eben nicht mehr als nett. Beim letzten Berg, der eben einen Großteil dieser 600
Höhenmeter einnahm, sagte mein portugiesischer Freund „ultimo“, der letzte große
Anstieg, es wurde nun auch wieder dunkel.
Ich hatte ja am Freitag vor dem Start leider nicht schlafen können, ich war viel
zu aufgedreht und mit zunehmender Dunkelheit wurde es auch dunkel in meinem
Oberstübchen und ich begann, zu wanken, langsamer zu werden und musste immer
wieder aussetzen und meinen schweren Kopf auf die Stöcke stützen. Es war Zeit zu
schlafen.
Das aber wollte ich nicht tun, bevor ich nicht den Startplatz des Trail 17
erreicht hatte, den letzten Cut-Off. Eingelaufen dort bin ich gut 90 Minuten vor
dem Cut-Off, ich legte mich hin, ich bekam eine wärmende Decke und einen „wake
up call“ nach 30 Minuten.
30 Minuten, die mir mehr als gut taten. Ich konnte wieder laufen! Und weil ich
mir ja vorher ausgerechnet hatte, dass die Verantwortlichen des Trails den
Einsteigern eine eher leichte Kost zu laufen geben würden und dass die sechs
Stunden, die man für diese lächerlichen 17 Kilometer eingeplant hätte, mehr als
üppig waren, ging ich davon aus, um 3.30 Uhr einlaufen zu können.
Es begann auch sehr lange sehr einfach. Das Gefälle war sehr moderat, die
Strecke breit und eben, eine Autobahn gewissermaßen. Aber dann kam doch noch ein
Streckenabschnitt, insgesamt 6 lange Kilometer lang, der zumindest am Anfang in
die Kategorie „Mist, wo bin ich hier?“ gepasst hätte.
Steil und erdig wie eine Woche zuvor beim
BVG-Trail, aber eben um ein Vielfaches länger. Der letzte Abstieg vor Trient
beim UTMB hat auch so eine Qualität, aber auch da ist der Abschnitt sehr kurz.
Der hier auf Madeira wollte scheinbar nicht mehr enden.
Aber dann, etwa auf der Höhe von 250 Metern, endete er doch und wir liefen noch
einige Kilometer Levadas, gut und neu betoniert. Ich lief, ich ging, ich lief
und ich überholte noch viele, die am Ende ihrer Kräfte waren. Darunter waren
auch viele, die mich Stunden zuvor überholt hatten. Der MIUT hatte ihnen die
letzten Kräfte geraubt und viele entschieden sich, ab einem gewissen Punkt nur
noch zu wandern.
Eine steile Wiese hinab, eine Treppe hinunter, die beleuchtete Stadt Machico im
Blick, ging es auf eine Straße. Eine der unglaublich vielen Helferinnen sagte,
dass ich jetzt fast da wäre, die Straße entlang, runter auf die Promenade. Vor
mir lag noch die Fußgängerbrücke, die ich beschloss, beim Anstieg zu bewandern,
um wieder Fahrt aufzunehmen, die Mundwinkel hoch zu ziehen, ein Lächeln
aufzusetzen, die linke Hand in den nächtlichen Himmel zu strecken und zum Finale
einzulaufen.
Es flossen nur sehr wenig Tränen bei mir, aber ich war froh, um 4 Uhr 4
eingelaufen zu sein. Über drei Stunden, 3 Stunden und 14 Minuten, um genau zu
sein, für diese letzten 17 Kilometer, 28 Stunden und 4 Minuten für den MIUT 115.
Platz 201 war das dann bei den Herren, wahrlich keine Sensation, wenn man die
Finisher-Liste ansieht. Nimmt man aber die dazu, die es gar nicht geschafft
haben, dann bin ich mit meiner Leistung in diesen 28 Stunden doch sehr
zufrieden.
Es gab noch ein sehr spätes Abendessen im Zelt und am nächsten Tag einen Schatz,
der bei mir einen Stellenwert haben wird wie meine UTMB-Weste: die MIUT 115
Weste, auch in einem kräftigem Rotton. Für die würde ich glatt noch einmal
laufen, jetzt, heute und sofort.
Zum Abschluss fuhr ich noch in mein Hotel zurück, in das wunderschöne GaloResort.
So viele neue Freunde hatte ich dort getroffen und die beiden Tage danach
beschreibt ein Satz von Matthias wohl am besten. Er sagte, dass er früher in den
Discos immer bis in die Puppen geblieben wäre, bei einem Frühstück aber so lange
zu sitzen und zu quatschen wie im GaloResort, eben bis wir die letzten Gäste
waren, das Licht gelöscht wurde und die Vorbereitungen für das Mittagsmahl
begannen, das hätte er noch nie erlebt.
Ich auch nicht. Und auch noch nicht so einen Trail auf so einer malerischen
Insel.
Und ich bin froh, von nun an keine Gedanken mehr an den Bau der „perfekten
Insel“ verschwenden zu müssen. Wenn ich die sehen will, dann fliege ich einfach
wieder nach Madeira.
Und wenn ich morgen das Hotel und die Insel verlassen muss und im Flieger über
der Insel schwebe, dann werde ich an diese Insel denken, an die Menschen darauf
und an dieses großartige Event und ich werde denken: „Ich habe mich in diesen
Tagen verändert, Ihr habt mich verändert. Vielen Dank dafür!“ |