Kultlauf im Thüringer Wald - der Rennsteig Supermarathon 2006
Für jeden Marathoni, der die „klassische“ Distanz von 42,195 km ein
paar mal ohne traumatisches Erlebnis überstanden hat, kommt irgendwann
einmal der Punkt, an dem er sich fragt, wie wohl die läuferische Welt
jenseits dieser magischen Grenze aussieht. Auch ich habe diesen Punkt
erreicht. Und weil es - wenn schon, denn schon - etwas Besonderes sein
sollte, war für mich schon recht bald klar, dass der geschichts- wie
geschichtenträchtige Rennsteiglauf die ideale Teststrecke für einen
solchen Selbsterfahrungstrip bietet.
Dass der Rennsteiglauf nicht in gängige Schemata passt, zeigt schon der
Umstand, dass der Marathon hier 43,1 km lang ist. Aber es sind wohl gerade
die besonderen Eigenarten, die alljährlich im Mai seit nunmehr 34 Jahren
Tausende in den Thüringer Wald im Herzen Deutschlands strömen lassen, um
bei einer der diversen Lauf- und Wanderveranstaltungen, vom 10 km-Walk bis
zum Supermarathon, dabei zu sein. 16.628 (!) haben sich 2006 angemeldet
und für einen neuen Teilnehmerrekord gesorgt. Auch wenn
Hauptanziehungspunkt mittlerweile der Halbmarathon mit fast 6.000 Startern
ist – die Königsdisziplin ist und bleibt der Supermarathon, der „lange
Kanten“ über hügelige 72,7 km von Eisenach nach Schmiedfeld. Und genau
dieser Herausforderung wollte ich mich stellen.
Zünftig geht es bereits am Vorabend des Laufes zu. Auf dem Marktplatz in
Eisenach sammeln sich die „Ultras“ zur Kloßparty mit Gulasch und
Blaukraut. Das Schwarzbier von Sponsor Köstritzer fließt in Strömen, die
Stimmung ist ausgelassen, Rennsteig-Novizen wie ich scheinen eher in der
Minderheit zu sein. Das kommunikative Miteinander setzt sich im
„Massenquartier“, einer Schule am Stadtrand, für das auch ich mich neben
etwa 200 anderen Läufern entschieden hatte, fort. Kaum ist am Abend Ruhe
eingekehrt, klingeln vor 4 Uhr schon die ersten Wecker – kein Wunder: So
hart wie die Distanz ist auch die Startzeit um 6 Uhr.
Über 1600 Läufer finden sich im ersten Morgenlicht auf dem Marktplatz ein.
Traditionell wird das volkstümliche Rennsteiglied gespielt – dann geht es
los. Nur ein paar Hundert Meter lang klappern die Schritte über das
Pflaster der Fußgängerzone, dann verschluckt schon die Natur den
Läuferstrom. Die Natur, genauer gesagt der Wald in all seinen Facetten,
ist das beherrschende Element des Laufs – die nächste Ansiedelung werde
ich erst wieder im Ziel sehen.
Noch locker nehme ich mit den anderen die gleich von Anfang an deftigen
Steigungen. Dass der Untergrund der Wege teils ziemlich matschig ist, sehe
ich mehr als Herausforderung denn als Hindernis. Schnell gewinnen wir an
Höhe. Erst bei Kilometer 7 ist der eigentliche Rennsteig, der sich als
historischer Höhenweg über 160 km durch den Thüringer Wald zieht,
erreicht. Immer wieder erinnern alte, verwitterte Grenzsteine an
vergangene Zeiten. In stetigem Auf und Ab geht es dahin, meist auf breit
trassierten Forstwegen, dann wieder auf schmalen Wanderpfaden oder auch
mal über dichtes Wurzelwerk. Nur ab und zu gibt der Wald einen weiten
Blick über das sanft geschwungene Bergland und die tiefliegende Ebene
frei.
Bei Kilometer 25,5 ist der erste Meilenstein der Strecke erreicht: der
„Große Inselsberg“, mit 925 Metern zwar nicht gerade ein Bergriese, aber
immerhin gut 700 Meter höher als Eisenach liegend. So steil wie das letzte
Stück den Berg hinaufführt, so steil geht es auf der anderen Seite hinab.
Auf einem Niveau von 700 – 800 Höhenmetern zieht sich die Strecke in
zahllosen Wellen dahin. Noch fühle ich mich gut, genieße die satt grüne
Natur und die Ruhe. Weit hat sich der Pulk auseinandergezogen, bisweilen
komme ich mir wie ein einsamer Waldläufer vor.
Zu den Höhepunkten der Strecke zählen zweifelsohne die zahlreichen
Getränke- und Verpflegungsstellen. Stolze 15 sind es an der Zahl, oft
urplötzlich aus dem Grün auftauchend und immer ein Ort der Freundlichkeit
und aufmunternden Worte. Vor allem bei der malerisch gelegenen Ebertswiese
genau zur Streckenhälfte fällt es mir schwer, mich wieder zu
verabschieden. Das kulinarische Angebot ist einmalig. Neben dem üblichen
Sortiment werden Spezialitäten wie Schmalz- und Wurstbrote,
Heidelbeersuppe (lecker!) oder der legendäre warme Haferschleim geboten.
Letzteren hätte ich „freiwillig“ wohl nie probiert – jetzt weiß ich:
gerade bei einem so langen Lauf ist er einfach genial.
Kurz hinter Kilometer 40: eine längere Steigung, etwas steiler als sonst,
aber bestimmt nicht außergewöhnlich. Plötzlich geht nichts mehr - die
Beine streiken. Habe ich mein Limit schon erreicht? Die Vorstellung, dass
noch über 30 km vor mir liegen, lässt mein Selbstvertrauen gegen Null
sinken. Zwar kommen auch die meisten anderen nur in mehr oder weniger
dynamischem Schritttempo voran, aber das hilft mir nicht aus meiner
Frustration. Schier endlos ziehen sich Zeit und Kilometer.
Ein halber Becher Cola am nächsten Verpflegungspunkt bringt jedoch den
Umschwung. Ich kann es kaum glauben. Zumindest in der Ebene und bergab
kehre ich in einen flüssigen Lauf zurück, bergan begnüge ich mich fortan
wohlweislich mit dem „ersten Gang“. Obwohl es immer windiger, wolkiger und
kälter wird, immer stärkerer Regen den Boden in ein Schlammbad verwandelt:
nie wieder habe ich Zweifel, es bis ins Ziel zu schaffen. Keinen Gedanken
verschwende ich daran, beim „Grenzadler“ (km 54,5) die Möglichkeit zum
Ausstieg mit Zeitnahme zu nehmen.
Kurz vor km 62 erreicht die Strecke bei „Plänckners Aussicht“ unterhalb
des Großen Beerbergs mit 973 m NN ihren Kulminationspunkt. Von nun an geht
es (fast) nur noch bergab, hinab zum Ziel in Schmiedefeld, jenem kleinen
Ort, an dem alle Läufe, gleich ob sie in Neuhaus, Oberhof oder Eisenach
starteten, enden. Schon von weitem höre ich durch den Wald den Lärm der
Menschen. Trotz des mittlerweile heftigen Regens bereiten die Menschen den
Zielankömmlingen einen mitreißenden Empfang. Grandios ist das Gefühl, 72,3
km und (handgemessene) 1800 Höhenmeter geschafft zu haben – und dieses
Gefühl spürt man auch bei allen anderen, die im riesigen Festzelt noch
viele Stunden lang feiern.
Resümee: Der Rennsteigsupermarathon ist eine wirklich „knackige“
Herausforderung – doch die perfekte Organisation und herzliche Atmosphäre
helfen sehr, diese zu meistern. Fast alle, die es wagen, schaffen es ins
Ziel, auch wenn zwischen dem Ersten (5:26) und dem Letzten (12:23)
beachtliche sieben Stunden liegen.
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