Bei der Kontrollstelle Hocherbalm sehe ich, dass mein Rückstand auf die
Mindestdurchlaufzeit noch immer 28 Minuten beträgt. Nun hängt das
Damoklesschwert „Ausstieg wegen Zeitüberschreitung“ verdammt tief über mir. Die
Helfer an der Kontrollstelle sind davon überzeugt, dass ich so spät keine Chance
mehr habe, die Cut Off Stelle bei Egg noch rechtzeitig zu erreichen. Aber ich
fühle mich noch wirklich gut und habe absolut keine Lust, wegen mangelnder
Geschwindigkeit auf den Hochfelln-Aufstieg verzichten zu müssen. Ich W I L L die
100 km auf jeden Fall schaffen. Noch habe ich keine Konditions- oder
Muskelprobleme. Bloß wegen dem durch die heute so rutschigen Wege bedingten
Zeitverlust nur 80 km statt 100 km laufen – kommt nicht in Frage! So schnell
gebe ich nicht auf. Es gibt immer ein „noch weiter“!
Entgegen aller Chancen gebe ich jetzt Gas und versuche das scheinbar Unmögliche
doch noch zu erreichen.
Zuerst führt ein Trail bergab. Ich komme schnell voran. Dann bremst mich ein
Aufstieg auf einer Forststraße stark ab. Wieder talwärts, wieder hinauf. Ich
überhole einige langsamere Läufer.
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Bei der Wallfahrskirche Maria Eck wundern sich die Kirchgänger über die
Verrückten, die an ihnen vorbei über den Parkplatz rennen. |
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Bei km 67,2 erreiche ich die nächste Verpflegungsstelle. Nun bleiben mir noch
knapp über zwei Stunden, um die nächsten 15 km zu schaffen. „Wenn du es flott
angehen lässt könnte es klappen. Der Weg ist relativ gut laufbar“, höre ich. Ich
lege nur einen sehr kurzen Stopp ein und eile gleich weiter.
Bald darauf geht es doch wieder ein Stück aufwärts. Wieder muss ich gehen statt
laufen. Die Uhr tickt immer lauter. Doch dann wird die Strecke wieder schneller.
Nur kurze Zwischenaufstiege bremsen mich. Ich überhole mehrere Teilnehmer, die
nur noch langsam gehen.
Unter mir liegt Ruhpolding. Gleich habe ich es geschafft! |
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Doch dann sehe ich vor mir Läufer, die auf einem längeren Asphaltweg hinauf nach
Egg steigen. „So ein Mist! Jetzt doch noch ein längeres Gehstück!“ fluche ich.
Ich fühle mich zweifellos fit genug, noch weitere fünf Stunden im Rennen zu
bleiben, aber der Cut Off rückt nun wie ein Angstgespenst in haarscharfe Nähe.
Mir geht es noch gut! Ich will jetzt nicht gleich hinab zum Stadion laufen
müssen! Ich will zum Gipfel!
Doch dann kann ich erleichtert aufatmen. Buchstäblich in letzter Minute komme
ich an der Garage mit der Verpflegung an. Ich frage, ob ich trotz der knappen
Zeit noch etwas essen kann. Natürlich!
Während meine Freundin, die auch hierher mit dem Rad gefahren ist, wärmere
Wechselklamotten und die Stirnlampe aus meiner Drop Bag holt, stopfe ich schnell
alle möglichen Lebensmittel in mich hinein, trinke Tee, Cola und alkoholfreies
Bier. Dann starte ich als letzter Läufer den Aufstieg zum Hochfelln.
Ein letzter Blick hinab nach Egg und nach Ruhpolding, dann steige ich mit
allerbester Laune bergauf.
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950 Höhenmeter Aufstieg zum Gipfel warten nun noch einmal auf mich. Anfangs auf
breitem Weg, dann lange Zeit auf einem nur schuhbreiten Pfad mit nicht allzu
schwerer Steigung, marschiere ich hinauf. Blumen, urige Bäume, Felsen, ab und zu
etwas Aussicht – hier gefällt es mir wieder ausgesprochen gut. Die Chiemgauer
Alpen sind zu meiner Überraschung viel schöner, als sie von der Autobahn
zwischen München und Salzburg aussehen.
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Oberhalb der Farnbödenalm weicht der Pfad einem steinigen Weg. Seit Egg verfolgt
mich nicht der Besenwagen sondern zwei gut gelaunte Leute, die hinter mir alle
Streckenmarkierungen abbändeln. Erst gegen 19.45 Uhr übergebe ich die Position
als letzter Läufer einem anderen.
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Auf dem letzten Kilometer hinauf zum Gipfel sehe ich mehrere Alpensalamander.
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20 Uhr. Noch dauert es eine Weile bis zum Sonnenuntergang, aber die Berge um
mich herum liegen wegen der dichten Wolkendecke jetzt schon im Dunkeln.
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Das letzte Stück hinauf zum Gipfel marschiere ich mal wieder durch dichten
Nebel. Als ich oben ankomme fühle ich mich wie Hillary beim Erreichen des Mount
Everest.
Bei dieser Kälte befindet sich die Verpflegungsstation natürlich drinnen im
warmen Berghaus.
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Nach einer warmen Suppe und einem alkoholfreien Bier breche ich wieder auf.
Draußen ist nun wirklich saukalt.
Jetzt folgt noch einmal ein ausgesprochen anspruchsvoller Abenteuerparcours. Auf
steilem Pfad muss man durch ein Gewirr aus Wurzeln balancieren, manchmal sogar
klettern. Zum Glück kann man sich an den Zweigen der rechts und links des Pfades
wachsenden Latschen festhalten.
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Dem Wurzelgewirr folgt ein verdammt steiler Felspfad. Da hier im Gegensatz zur
Hörndlwand rutschiger Schlamm kein großes Problem darstellt macht mir dieser
Abstieg viel mehr Spaß. |
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Auf dem Übergang zum Thorausattel geht es nun einfacher voran.
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Manchmal sehe ich weit vor mir einen anderen Läufer, aber ich hole ihn
stundenlang nicht ein und der Abstand scheint immer ähnlich zu bleiben.
Dann wird es endgültig zu dunkel für Fotos. |
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So lange es geht laufe ich noch ohne Stirnlampe auf dem nun nur noch
durchschnittlich anspruchsvollen Pfad bergab. Doch schließlich geht es nicht
mehr ohne Licht. Zum Glück habe ich eine Lampe, die den Pfad in voller Breite
ideal ausleuchtet, so dass ich auch bei Nacht ebenso sicher laufen kann wie bei
Tageslicht.
Da ab diesem Streckenabschnitt an vielen Flatterbändern starke Reflektoren
hängen, die schon bei 200 m Entfernung hell leuchten, erkenne ich den folgenden
Wegverlauf sogar manchmal besser als bei Tag.
Für den 4 km langen Abstieg vom Gipfel hinab nach Eschelmoos brauche ich
überraschend fast eine Stunde. Erst kurz oberhalb von Eschelmoos mündet der Pfad
auf einen guten Forstweg.
Bei der letzten Verpflegungsstelle halte ich mich nur kurz auf, denn wieder
zwingt mich das Zeitlimit zur Eile. Schon 21:20 Uhr! Ich rechne mir aus, dass
ich das Stadion nur dann noch rechtzeitig vor Zielschluss um 23 Uhr erreiche,
wenn die letzten 15 km ohne nennenswerte Zwischenaufstiege durchgehend schnell
laufen kann.
Anfangs sieht es gut aus. Auf einer guten Forststraße mit leichtem Gefälle komme
ich sehr schnell voran. Doch dann bremst mich ein zwar nur leichter, aber
dennoch zu so später Stunde Kraft raubender Aufstieg. Der nächste Abstieg eignet
sich auch nicht so recht zum Tempomachen, denn er ist so steil, dass mehr Kraft
beim Bremsen verbraucht wird als beim Beschleunigen.
Zwischen Gruttau und Brand überhole ich zwei Läufer, bin also nun nicht mehr
Vorletzter. Aber das Zeitlimit.....
Noch gebe ich nicht auf und hole alles aus mir raus was geht. Bei Kontrollstelle
Brand habe ich schon die Hälfte von meinem Zeitrückstand reduziert. Doch ich
weiß, es wird immer knapper.
Hier treffe ich Markus Zander, der ebenfalls die Hoffnung noch nicht ganz
aufgegeben hat. Wir laufen nun etwa 5 km gemeinsam. Immer wieder bremsen uns
weitere kurze Aufstiege, und 23 Uhr rückt immer näher.
Dann wird klar, wir liegen über dem Soll. Beim letzten leichten Aufstieg hinauf
nach Wasen lasse ich Markus alleine voraus ziehen.
Zuletzt schnell hinab nach Ruhpolding. Auf der Straße sind nahezu keine Autos
mehr unterwegs, doch ausgerechnet als ich sie überqueren will muss ich eine
Kolonne von zehn Fahrzeugen abwarten.
Dann erreiche ich endlich das Stadion. Wie bei fast allen Teilnehmern fährt mir
der Wirt der Gaststätte mit einem gelben Buggy entgegen und begleitet mich auf
der Tartanbahn fahnenschwingend ins Ziel.
18 Stunden und zehn Minuten, also knapp ein Prozent über dem Zeitlimit! Doch
dass ich es nicht rechtzeitig geschafft habe ist mir völlig egal. Ich weiß, dass
ich bei trockenem Wetter oder mit Stöcken mindestens eine halbe Stunde früher
angekommen wäre, und für mich zählt nur eines: dass ich es bei diesen
Bedingungen überhaupt geschafft habe. Den schnellen Läufern gönne ich ihre
verdiente Freude über ihre Ergebnisse, aber für mich persönlich ist es ein
ebenso großer Erfolg, erstmals 4400 Höhenmeter gelaufen zu sein. Klar, manche
Finisher empfinden 4400 als wenig. Es gibt immer ein „noch höher“. Ich weiß,
dass der UTMB und noch schwerere Wettkämpfe weitaus größere Herausforderungen
bedeuten.
Auch ich habe natürlich schon Ideen für neue Herausforderungen, und während ich
diese Reportage schreibe lasse ich mich schon bei der nächsten Steigerung auf
die Warteliste setzen. Es gibt immer ein noch weiter!
Als ich gegen Mitternacht zum Gästehaus komme schaffe ich es nicht, alleine
meine Kompressionssocken auszuziehen. Der von Knöcheln bis zu den Knien fast
lückenlos festgetrocknete Schlamm ist jetzt so hart, dass ich die Socken fast
von den Beinen meißeln muss. Mit Hilfe von Annette brösele ich Stück für Stück
von der harten Masse ab, bis wir mit hohem Kraftaufwand die Socken von den
Beinen ziehen können.
Am nächsten Morgen sitzen wir bei sonnigem, warmem Wetter um 10 Uhr auf der
Terrasse am Sportheim. T-Shirt statt Herbstkleidung – so hätte es gestern sein
sollen!
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Der älteste Teilnehmer, Karl-Ernst Rösner, der bereits vorgestern beim Briefing
sehr engagiert alle Läufer darum bat, die Zukunft der Veranstaltung nicht durch
auf den Weg geworfene Gelpackungen zu gefährden, bedankt sich ganz herzlich
darüber, dass wirklich alle Teilnehmer dem Naturschutz folgten.
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Wohl jeder von uns kennt leider Läufe, bei denen man sich am Müll fast genau so
gut orientieren kann wie an den offiziellen Markierungen. Gestern konnte ich zu
meiner großen Freude feststellen, dass auf den kompletten 100 km kein einziger
von Läufern verursachter Fetzen Müll auf dem Boden lag.
Anschließend tauschen zwei 100 Meilen Läufer unter allgemeinem Applaus ihre
Stöcke, die sie gestern bei einer Verpflegungsstelle verwechselten.
Es folgt die Siegerehrung. Schnellste 100 km Frau wurde Gine Enenkel in 14:07,
schnellster 100 km Mann Rudi Döhnert in 11:35, schnellster 100 Meilen Läufer
Thomas Wagner in 24:07.
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Als Trophäe gibt es dieses Mal Steine aus dem Flussbett der Traun, in die das
aus Metall gefräste Höhenprofil der 100 km gesteckt wurde. Auch das
Finishershirt gefällt mir sehr gut, denn hinten zeigt es ebenfalls das
Höhenprofil, und die gelaufene Distanz kann man selbst ankreuzen. |
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Zum Schluss folgt eine große Verlosung, bei der sehr viele Teilnehmer noch
attraktive Preise gewinnen, z.B. Salomon-Trailschuhe, einen Gleitschirmflug und
vieles mehr.
Zwar ist die niedrige Teilnehmergebühr wirklich der letzte Grund, warum man sich
für die Anmeldung zu so einer anspruchsvollen und schönen Veranstaltung
entscheiden sollte, aber ich glaube, es gibt in Deutschland wohl keinen anderen
Lauf mit einem so unglaublichen Preis-Leistungsverhältnis. Für nur 40 Euro gibt
es außer dem tollen Lauf mit hervorragend bestückten Verpflegungsstellen am
Freitag Pasta und ein Getränk bei der Pastaparty, ein Finishershirt (Salomon
statt Billigware!) und die Chance auf tolle Preise bei der Verlosung. Wahnsinn!
Herzlichen Dank an Gi und die Sponsoren.
Auf einem Tisch liegt ein Fragebogen zum Lauf. Was soll zukünftig geändert
werden?
Tja, zum allerersten Mal in meinem Leben fällt mir wirklich absolut nichts ein,
das man beim nächsten Mal verbessern könnte. Mach ganz genau so weiter, Gi! |
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