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Chiemgauer 100 am 30.07.2011 - Es gibt immer ein „noch weiter“ -  Bildbericht von Günter Kromer

100 km und 4400 Höhenmeter

Teil 3

E-Mail - an Günter

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Mehr über den Autoren Günter Kromer

Chiemgauer 100 2011
Felsige Wege am Hochfelln beim Chiemgauer 100 2011

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Bei der Kontrollstelle Hocherbalm sehe ich, dass mein Rückstand auf die Mindestdurchlaufzeit noch immer 28 Minuten beträgt. Nun hängt das Damoklesschwert „Ausstieg wegen Zeitüberschreitung“ verdammt tief über mir. Die Helfer an der Kontrollstelle sind davon überzeugt, dass ich so spät keine Chance mehr habe, die Cut Off Stelle bei Egg noch rechtzeitig zu erreichen. Aber ich fühle mich noch wirklich gut und habe absolut keine Lust, wegen mangelnder Geschwindigkeit auf den Hochfelln-Aufstieg verzichten zu müssen. Ich W I L L die 100 km auf jeden Fall schaffen. Noch habe ich keine Konditions- oder Muskelprobleme. Bloß wegen dem durch die heute so rutschigen Wege bedingten Zeitverlust nur 80 km statt 100 km laufen – kommt nicht in Frage! So schnell gebe ich nicht auf. Es gibt immer ein „noch weiter“!
Entgegen aller Chancen gebe ich jetzt Gas und versuche das scheinbar Unmögliche doch noch zu erreichen.
Zuerst führt ein Trail bergab. Ich komme schnell voran. Dann bremst mich ein Aufstieg auf einer Forststraße stark ab. Wieder talwärts, wieder hinauf. Ich überhole einige langsamere Läufer.

Chiemgauer 100 2011
Bei der Wallfahrskirche Maria Eck wundern sich die Kirchgänger über die Verrückten, die an ihnen vorbei über den Parkplatz rennen.
Chiemgauer 100 2011
Bei km 67,2 erreiche ich die nächste Verpflegungsstelle. Nun bleiben mir noch knapp über zwei Stunden, um die nächsten 15 km zu schaffen. „Wenn du es flott angehen lässt könnte es klappen. Der Weg ist relativ gut laufbar“, höre ich. Ich lege nur einen sehr kurzen Stopp ein und eile gleich weiter.
Bald darauf geht es doch wieder ein Stück aufwärts. Wieder muss ich gehen statt laufen. Die Uhr tickt immer lauter. Doch dann wird die Strecke wieder schneller. Nur kurze Zwischenaufstiege bremsen mich. Ich überhole mehrere Teilnehmer, die nur noch langsam gehen.
Unter mir liegt Ruhpolding. Gleich habe ich es geschafft!
Chiemgauer 100 2011
Doch dann sehe ich vor mir Läufer, die auf einem längeren Asphaltweg hinauf nach Egg steigen. „So ein Mist! Jetzt doch noch ein längeres Gehstück!“ fluche ich. Ich fühle mich zweifellos fit genug, noch weitere fünf Stunden im Rennen zu bleiben, aber der Cut Off rückt nun wie ein Angstgespenst in haarscharfe Nähe. Mir geht es noch gut! Ich will jetzt nicht gleich hinab zum Stadion laufen müssen! Ich will zum Gipfel!
Doch dann kann ich erleichtert aufatmen. Buchstäblich in letzter Minute komme ich an der Garage mit der Verpflegung an. Ich frage, ob ich trotz der knappen Zeit noch etwas essen kann. Natürlich!
Während meine Freundin, die auch hierher mit dem Rad gefahren ist, wärmere Wechselklamotten und die Stirnlampe aus meiner Drop Bag holt, stopfe ich schnell alle möglichen Lebensmittel in mich hinein, trinke Tee, Cola und alkoholfreies Bier. Dann starte ich als letzter Läufer den Aufstieg zum Hochfelln.
Ein letzter Blick hinab nach Egg und nach Ruhpolding, dann steige ich mit allerbester Laune bergauf.
Chiemgauer 100 2011
950 Höhenmeter Aufstieg zum Gipfel warten nun noch einmal auf mich. Anfangs auf breitem Weg, dann lange Zeit auf einem nur schuhbreiten Pfad mit nicht allzu schwerer Steigung, marschiere ich hinauf. Blumen, urige Bäume, Felsen, ab und zu etwas Aussicht – hier gefällt es mir wieder ausgesprochen gut. Die Chiemgauer Alpen sind zu meiner Überraschung viel schöner, als sie von der Autobahn zwischen München und Salzburg aussehen.
Chiemgauer 100 2011
Chiemgauer 100 2011
Chiemgauer 100 2011
Chiemgauer 100 2011
Chiemgauer 100 2011
Oberhalb der Farnbödenalm weicht der Pfad einem steinigen Weg. Seit Egg verfolgt mich nicht der Besenwagen sondern zwei gut gelaunte Leute, die hinter mir alle Streckenmarkierungen abbändeln. Erst gegen 19.45 Uhr übergebe ich die Position als letzter Läufer einem anderen.
Chiemgauer 100 2011
Auf dem letzten Kilometer hinauf zum Gipfel sehe ich mehrere Alpensalamander.
Chiemgauer 100 2011
20 Uhr. Noch dauert es eine Weile bis zum Sonnenuntergang, aber die Berge um mich herum liegen wegen der dichten Wolkendecke jetzt schon im Dunkeln.
Chiemgauer 100 2011
Das letzte Stück hinauf zum Gipfel marschiere ich mal wieder durch dichten Nebel. Als ich oben ankomme fühle ich mich wie Hillary beim Erreichen des Mount Everest.
Bei dieser Kälte befindet sich die Verpflegungsstation natürlich drinnen im warmen Berghaus.
Chiemgauer 100 2011
Nach einer warmen Suppe und einem alkoholfreien Bier breche ich wieder auf. Draußen ist nun wirklich saukalt.
Jetzt folgt noch einmal ein ausgesprochen anspruchsvoller Abenteuerparcours. Auf steilem Pfad muss man durch ein Gewirr aus Wurzeln balancieren, manchmal sogar klettern. Zum Glück kann man sich an den Zweigen der rechts und links des Pfades wachsenden Latschen festhalten.
Chiemgauer 100 2011
Dem Wurzelgewirr folgt ein verdammt steiler Felspfad. Da hier im Gegensatz zur Hörndlwand rutschiger Schlamm kein großes Problem darstellt macht mir dieser Abstieg viel mehr Spaß.
Chiemgauer 100 2011
Chiemgauer 100 2011
Auf dem Übergang zum Thorausattel geht es nun einfacher voran.
Chiemgauer 100 2011
Manchmal sehe ich weit vor mir einen anderen Läufer, aber ich hole ihn stundenlang nicht ein und der Abstand scheint immer ähnlich zu bleiben.
Dann wird es endgültig zu dunkel für Fotos.
Chiemgauer 100 2011
So lange es geht laufe ich noch ohne Stirnlampe auf dem nun nur noch durchschnittlich anspruchsvollen Pfad bergab. Doch schließlich geht es nicht mehr ohne Licht. Zum Glück habe ich eine Lampe, die den Pfad in voller Breite ideal ausleuchtet, so dass ich auch bei Nacht ebenso sicher laufen kann wie bei Tageslicht.
Da ab diesem Streckenabschnitt an vielen Flatterbändern starke Reflektoren hängen, die schon bei 200 m Entfernung hell leuchten, erkenne ich den folgenden Wegverlauf sogar manchmal besser als bei Tag.
Für den 4 km langen Abstieg vom Gipfel hinab nach Eschelmoos brauche ich überraschend fast eine Stunde. Erst kurz oberhalb von Eschelmoos mündet der Pfad auf einen guten Forstweg.
Bei der letzten Verpflegungsstelle halte ich mich nur kurz auf, denn wieder zwingt mich das Zeitlimit zur Eile. Schon 21:20 Uhr! Ich rechne mir aus, dass ich das Stadion nur dann noch rechtzeitig vor Zielschluss um 23 Uhr erreiche, wenn die letzten 15 km ohne nennenswerte Zwischenaufstiege durchgehend schnell laufen kann.
Anfangs sieht es gut aus. Auf einer guten Forststraße mit leichtem Gefälle komme ich sehr schnell voran. Doch dann bremst mich ein zwar nur leichter, aber dennoch zu so später Stunde Kraft raubender Aufstieg. Der nächste Abstieg eignet sich auch nicht so recht zum Tempomachen, denn er ist so steil, dass mehr Kraft beim Bremsen verbraucht wird als beim Beschleunigen.
Zwischen Gruttau und Brand überhole ich zwei Läufer, bin also nun nicht mehr Vorletzter. Aber das Zeitlimit.....
Noch gebe ich nicht auf und hole alles aus mir raus was geht. Bei Kontrollstelle Brand habe ich schon die Hälfte von meinem Zeitrückstand reduziert. Doch ich weiß, es wird immer knapper.
Hier treffe ich Markus Zander, der ebenfalls die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hat. Wir laufen nun etwa 5 km gemeinsam. Immer wieder bremsen uns weitere kurze Aufstiege, und 23 Uhr rückt immer näher.
Dann wird klar, wir liegen über dem Soll. Beim letzten leichten Aufstieg hinauf nach Wasen lasse ich Markus alleine voraus ziehen.
Zuletzt schnell hinab nach Ruhpolding. Auf der Straße sind nahezu keine Autos mehr unterwegs, doch ausgerechnet als ich sie überqueren will muss ich eine Kolonne von zehn Fahrzeugen abwarten.
Dann erreiche ich endlich das Stadion. Wie bei fast allen Teilnehmern fährt mir der Wirt der Gaststätte mit einem gelben Buggy entgegen und begleitet mich auf der Tartanbahn fahnenschwingend ins Ziel.
18 Stunden und zehn Minuten, also knapp ein Prozent über dem Zeitlimit! Doch dass ich es nicht rechtzeitig geschafft habe ist mir völlig egal. Ich weiß, dass ich bei trockenem Wetter oder mit Stöcken mindestens eine halbe Stunde früher angekommen wäre, und für mich zählt nur eines: dass ich es bei diesen Bedingungen überhaupt geschafft habe. Den schnellen Läufern gönne ich ihre verdiente Freude über ihre Ergebnisse, aber für mich persönlich ist es ein ebenso großer Erfolg, erstmals 4400 Höhenmeter gelaufen zu sein. Klar, manche Finisher empfinden 4400 als wenig. Es gibt immer ein „noch höher“. Ich weiß, dass der UTMB und noch schwerere Wettkämpfe weitaus größere Herausforderungen bedeuten.
Auch ich habe natürlich schon Ideen für neue Herausforderungen, und während ich diese Reportage schreibe lasse ich mich schon bei der nächsten Steigerung auf die Warteliste setzen. Es gibt immer ein noch weiter!
Als ich gegen Mitternacht zum Gästehaus komme schaffe ich es nicht, alleine meine Kompressionssocken auszuziehen. Der von Knöcheln bis zu den Knien fast lückenlos festgetrocknete Schlamm ist jetzt so hart, dass ich die Socken fast von den Beinen meißeln muss. Mit Hilfe von Annette brösele ich Stück für Stück von der harten Masse ab, bis wir mit hohem Kraftaufwand die Socken von den Beinen ziehen können.
 
Am nächsten Morgen sitzen wir bei sonnigem, warmem Wetter um 10 Uhr auf der Terrasse am Sportheim. T-Shirt statt Herbstkleidung – so hätte es gestern sein sollen!
Chiemgauer 100 2011
Der älteste Teilnehmer, Karl-Ernst Rösner, der bereits vorgestern beim Briefing sehr engagiert alle Läufer darum bat, die Zukunft der Veranstaltung nicht durch auf den Weg geworfene Gelpackungen zu gefährden, bedankt sich ganz herzlich darüber, dass wirklich alle Teilnehmer dem Naturschutz folgten.
Chiemgauer 100 2011
Wohl jeder von uns kennt leider Läufe, bei denen man sich am Müll fast genau so gut orientieren kann wie an den offiziellen Markierungen. Gestern konnte ich zu meiner großen Freude feststellen, dass auf den kompletten 100 km kein einziger von Läufern verursachter Fetzen Müll auf dem Boden lag.
Anschließend tauschen zwei 100 Meilen Läufer unter allgemeinem Applaus ihre Stöcke, die sie gestern bei einer Verpflegungsstelle verwechselten.

Es folgt die Siegerehrung. Schnellste 100 km Frau wurde Gine Enenkel in 14:07, schnellster 100 km Mann Rudi Döhnert in 11:35, schnellster 100 Meilen Läufer Thomas Wagner in 24:07.
Chiemgauer 100 2011
Als Trophäe gibt es dieses Mal Steine aus dem Flussbett der Traun, in die das aus Metall gefräste Höhenprofil der 100 km gesteckt wurde. Auch das Finishershirt gefällt mir sehr gut, denn hinten zeigt es ebenfalls das Höhenprofil, und die gelaufene Distanz kann man selbst ankreuzen.
Chiemgauer 100 2011
Zum Schluss folgt eine große Verlosung, bei der sehr viele Teilnehmer noch attraktive Preise gewinnen, z.B. Salomon-Trailschuhe, einen Gleitschirmflug und vieles mehr.
Zwar ist die niedrige Teilnehmergebühr wirklich der letzte Grund, warum man sich für die Anmeldung zu so einer anspruchsvollen und schönen Veranstaltung entscheiden sollte, aber ich glaube, es gibt in Deutschland wohl keinen anderen Lauf mit einem so unglaublichen Preis-Leistungsverhältnis. Für nur 40 Euro gibt es außer dem tollen Lauf mit hervorragend bestückten Verpflegungsstellen am Freitag Pasta und ein Getränk bei der Pastaparty, ein Finishershirt (Salomon statt Billigware!) und die Chance auf tolle Preise bei der Verlosung. Wahnsinn! Herzlichen Dank an Gi und die Sponsoren.
Auf einem Tisch liegt ein Fragebogen zum Lauf. Was soll zukünftig geändert werden?
Tja, zum allerersten Mal in meinem Leben fällt mir wirklich absolut nichts ein, das man beim nächsten Mal verbessern könnte. Mach ganz genau so weiter, Gi!

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