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“Die Nacht der Nächte” - ein Erlebnisbericht über
die Bieler Lauftage 12./13.06.2009 von Christian Dotter
Hallo Christian,
erstmal herzlichen Glückwunsch zu den 3:39 in Frankfurt. Und “jetzt gleich”
Biel? Nun ja, der Veranstalter bietet einen großzügigen Zeitrahmen, die
Versorgung und Verpflegung lässt auch einen Selbstversorger gut über die Runde
kommen, auch wenn er keinen Rucksack trägt. Aber das Ganze ist ein äußerst
ernstes Unternehmen. Daran bitte denken, völlig unabhängig von Schuhproblemchen,
Temperaturen in der Nacht oder sonstigen Steinen, die im Weg liegen.
Mit diesen Worten “ermahnt” mich ein erfahrener Ultraläufer, als ich über meine
Absicht sprach, nach meinem ersten je gelaufenen Marathon, bereits 8 Monate
später die legendären 100 km von Biel unter die Füße nehmen zu wollen.
Ich kann es gut verstehen: 100 km ist eine lange Distanz, die deshalb zum
Ultramarathon gezählt wird, und 600 Höhenmeter sind kein Profil, dass man mal
gerade so “aus der Hose heraus” läuft, zumal bei Nacht. Doch seit einigen
Jahren, seit ich von dieser Veranstaltung gehört und zahlreiche Berichte hierzu
gelesen habe, lässt dieser Lauf mich nicht mehr los. Bereits während und vor
allem kurz nach Beendigung meines ersten Marathons im Herbst 2008 in Frankfurt
reifte in mir der endgültige Entschluss: Nächstes Jahr muss ich nach Biel!
Einige in meinem Umfeld zweifeln, manchen erzähle ich deswegen erst sehr spät
davon, aber abbringen lasse ich mich davon nicht mehr.
Der Mythos Biel:
Der erste Bieler Lauf begann 1959, als mehrere Laufverrückte in einer
verregneten Nacht 100 km durch das Bieler Land marschierten. Damals ahnte noch
keiner, welche Dimensionen dieser Marsch einmal erreichen würde.
Im darauf folgenden Jahr wurde das ganze wiederholt und es beteiligten sich
bereits deutlich mehr Teilnehmer. Dieser Trend setzte sich weiter fort, vor
allem auch dank des in der Ultraszene sehr bekannt gewordenen Buches “Irgendwann
musst du nach Biel”, von Werner Sonntag. 4000 Teilnehmer zählte dieser Lauf, als
er in den 70er Jahren seinen Höhepunkt erreichte, inzwischen sind es 1500, wobei
die Teilnehmerschar sehr international ist.
Biel ist damit die größte 100 km Veranstaltung der Welt und wird gerne auch als
die “Mutter aller Läufe” bezeichnet, da Biel einen nachhaltigen Einfluss auch
auf die heutigen Marathons ausübte.
Bei den Bieler Lauftagen werden außerdem auch noch diverse Unterdistanzen und
Staffelläufe angeboten (Marathon, Halbmarathon etc.). Die Sollzeit ist mit 21
Stunden sehr großzügig bemessen. Das liegt daran, dass bis heute noch eine
beachtliche Zahl uniformierter Soldaten die 100 km als Marsch absolvieren.
Eine Besonderheit des Laufes besteht darin, dass sich jeder Läufer von einem
Fahrradfahrer begleiten lassen darf.
Mein Weg nach Biel:
Eines Tages sah ich als kleiner Junge, der noch die Grundschule besuchte, per
Zufall im Fernsehen einen Marathonlauf. Ich war halbwegs geschockt als ich
hörte, wie viele Kilometer die Athleten zurücklegen mussten und war felsenfest
davon überzeugt, niemals imstande zu sein, solch einen Lauf bestreiten zu
können.
Später erfuhr ich (war das auch nur Zufall?) von noch unglaublicheren
Wettkämpfen (Spartathlon, Biel etc.) und war noch schockierter: Wie kann ein
Mensch so etwas schier Unglaubliches leisten? Unmöglich, dachte ich nur, doch
die Faszination fürs Laufen hatte mich spätestens jetzt endgültig ergriffen. War
es wirklich nur für eine kleine Elite von Menschen möglich, solche Distanzen zu
laufen, oder auch für mich Durchschnittsmenschen, der wenig sportliches Talent
besitzt, wenig mentale Härte hat, bis dahin wenig Disziplin an den Tag legte?
Zunächst verdrängte ich dieses Thema, doch im Jahre 2004, mit 17 Jahren begann
ich schließlich doch für meinen ersten Volkslauf (Rieselfeldmeile Freiburg 5 km)
ein paar Wochen lang zu trainieren.
Im nächsten Jahr begann ich bereits etwas früher, um eine noch bessere Leistung
bei besagtem Volkslauf zu erzielen, und als ich merkte, dass mir Laufen nun
richtig Spaß machte und mir gut tat, fing ich nun auch an, ganzjährig Sport zu
treiben, 2 - 3 mal die Woche.
Im August 2006 lief ich mit 19 Jahren privat schließlich meinen ersten
Halbmarathon (1:49:46), im Jahr darauf lief ich den Freiburg Halbmarathon in
1:39:23 Stunden, sowie den Schluchseelauf (18,4 km inkl. 100 Höhenmeter in
1:30:49 Stunden) und entschloss mich, mich im nächsten Jahr dann doch an den
ehemals so gefürchteten Marathon zu wagen.
Am 26.10.08 war es dann soweit: Ich finishte meinen ersten Marathon und war nun
Feuer und Flamme, im nächsten Jahr auch in Biel zu starten.
Dazu fertigte ich einen Trainingsplan an, der sich im großen und ganzen an dem
11 h Biel-Trainingsplan auf www.laufreport.de orientierte und den ich an manchen
Stellen auf meine Bedürfnisse hin änderte. Konkret trainierte ich folgende
Umfänge:
Woche 44: 10 km
Woche 45: 32 km
Woche 46: 35 km
Woche 47: 60 km
Woche 48: 60 km
Woche 49: 40 km
Woche 50: 50 km
Woche 51: 61 km
Woche 52: 42 km
Woche 1: 51 km
Woche 2: 60 km
Woche 3: 70 km
Woche 4: 80 km
Woche 5: 60 km
Woche 6: 15 km, Infekt
Woche 7: 80 km
Woche 8: 90 km
Woche 9: 71,1 km, darin Halbmarathon - Wettkampf in 1:35:24 h
Woche 10: 80 km
Woche 11: 85 km
Woche 12: 100 km
Woche 13: 97,2 km, darin Marathon in 3:28:05 h
Woche 14: 80 km
Woche 15: 103 km
Woche 16: 101 km, darin 65 km Nachtlauf unter Biel Bedingungen in 7:44:55 h
Woche 17: 75 km
Woche 18: 25 km (Fußgelenkschmerzen)
Woche 19: 68,4 km, darin Schluchseelauf (18,4 km in 1000m Höhe mit 100
Höhenmeter in 1:28:20 h)
Woche 20: 100 km
Woche 21: 115 km
Woche 22: 130 km
Woche 23: 90 km
Woche 24: 20 km, Bieler Lauftage.
Jahresübersichten:
2005: ca. 480 km
2006: ca. 612 km
2007: ca. 614 km
2008: ca. 2000 km
2009 (bis Biel): 1846, 7 km
Anmerkung:
Die Trainingskilometer spulte ich praktisch allesamt im ruhigen Dauerlauftempo
bzw. Wohlfühltempo (in meinem Fall lag das zwischen 5:30 - 6: 00 min/km) im
flachen Gelände ab, nur ganz selten mal machte ich einen Tempolauf, wobei ich
(im nachhinein betrachtet) denke, dass ein paar Tempoläufe mehr
vielleicht/wahrscheinlich besser gewesen wären, ebenso ein häufigeres Wechseln
der Trainingsstrecke mit vor allem auch ein paar Bergeinheiten.
Ab März/April machte ich jede Woche einen Lauf von mindestens 30 km Länge, wobei
jedoch der lange Lauf nie über 36 km hinausging (Ausnahme war der 65 km
Nachtlauf).
In den letzten 4 Wochen machte ich schließlich sogar 2 Läufe von mindestens 30
km Länge pro Woche.
Das Ganze verteilt auf 4 Trainingseinheiten pro Woche, in den Wochen 21 + 22 auf
5 Einheiten.
Die Wettkämpfe lief ich ebenfalls nicht am Anschlag: den Halbmarathon ging ich
als Crescendolauf an, der Marathon war als lange Tempoeinheit mit
“Endbeschleunigung” gedacht.
Die Generalprobe bestand in dem im April privat absolvierten 65 km Lauf. Ich
lief um 22 Uhr los und testete alle Utensilien, die ich auch in Biel verwenden
wollte. Leider lief es nicht so gut wie erhofft und musste deshalb die letzten
20 km ziemlich kämpfen, doch der Lauf war dennoch hilfreich, da ich die Biel
Bedingungen und den Umgang mit Krisen relativ gut simulieren konnte. Danach
fühlte ich mich einigermaßen gestärkt für die 100 km.
Den Schluchseelauf führte ich ebenso als Crescendo durch und diente noch mal als
letzter Formtest.
Da ich wusste, dass der mentale Anteil bei einem Lauf dieser Größenordnung eine
große Rolle spielen würde, versuchte ich mich, auch dementsprechend darauf
vorzubereiten.
Ich prägte mir die Verpflegungspunkte sowie das Höhenprofil genau ein und setzte
mir jeweils Zwischenziele (z.B. bis Oberramsern möglichst locker durchlaufen,
bei Kirchberg darf es mir dann schon schlechter gehen, aber sollte noch im
grünen Bereich sein, ab Bibern dann mithilfe des blanken Willens ins Ziel),
wohlwissend, dass das ganze kaum en Detail planbar ist. Aber die Fokussierung
auf Zwischenziele ist meines Erachtens wichtig, da eine so lange Distanz einen
erschlägt, wenn man das ganze nicht ein wenig gedanklich “verkürzt”.
Ansonsten legte ich mir Sprüche/Gedanken zu, die mir bei auftretenden Krisen
hinweghelfen sollten.
Außerdem malte ich mir im Training stets den Zieleinlauf aus und verinnerlichte
diesen, las jeden Erfahrungs- und Laufbericht, den ich in die Finger bekam und
befragte Biel-erfahrene Läufer.
Zu guter Letzt erstellte ich mir einen genauen Zeitplan, bis wie viel Uhr ich
die Startunterlagen abgeholt, welche Mahlzeit gegessen, was für ein Getränk
getrunken haben wollte etc., um so nie in Zeitnot und damit Stress zu geraten.
Wahrscheinlich wäre es auch sinnvoll gewesen, die in Biel angebotenen
Getränke/Essen auch im Training auszuprobieren, vermutlich wäre dann mein Magen
gegen Ende aufnahmefähiger gewesen.
Die Anfahrt bis zum Startschuss:
Den Morgen des 12. Juni verbringe ich noch verhältnismäßig ruhig zuhause. Ich
bin am Vortag relativ spät ins Bett und habe so lange es ging geschlafen, um gut
ausgeruht an den Start gehen zu können. So bleiben Aufregung und Nervosität
zunächst eher aus, auch wenn mein Kopf mir versucht begreiflich zu machen, was
mich da wohl erwarten wird.
Am meisten Kopfzerbrechen bereiten mir jedoch meine Beine, insbesondere die
Waden: bei meinem 65 km Testlauf, den ich nachts durchgeführt hatte, waren diese
trotz vorheriger Reduktion des Trainingsumfangs von Beginn an sehr schwer
gewesen und machten den Lauf damals anstrengender als erwartet und geplant.
Hoffentlich hatte ich damit heute mehr Glück, sonst würde das ganze Unternehmen
in Gefahr geraten! Diese Befürchtung wurde insbesondere dadurch genährt, dass
ich bei den lockeren, deutlich kürzeren Einheiten in den letzten Tagen vor dem
Wettkampf schon wieder verhältnismäßig schlechte Beine hatte. Auch meine
Fußgelenkschmerzen, die in den letzten Wochen vor Biel aufgetreten waren,
bereiteten mir etwas Unbehagen. Diese waren zwar zuletzt fast verschwunden, aber
mir war nicht ganz klar, ob diese auch über 100 km lang nicht wieder auftreten
würden.
Am Mittag koche ich mir eine große Portion Spaghetti, einen Teil davon packe ich
als Wegzehrung ein. Als ich um 16:11 Uhr den Zug besteige, beginnt die
Aufregung, je näher der Ort Biel rückt. Zum Glück ist die Fahrt mit rund 2
Stunden verhältnismäßig kurz. In dieser Zeit präge ich mir die
Verpflegungspunkte (VP) ein sowie das Höhenprofil, um während des Laufes eine
möglichst genaue Vorstellung von dem zu haben, was mich dort erwarten würde. Am
Bahnhof in Biel erwartet mich Alex, der mich während des Laufes auf dem Rad “coachen”
wird. Er hat den Startbereich/Eissporthalle bereits gesichtet und zeigt mir,
welchen Bus ich zu nehmen habe.
Die Busfahrt dauert dann doch etwas länger als gedacht, ca. eine halbe Stunde.
Ich habe etwas Sorgen, dass die Zeit knapp werden könnte, doch bei der
Startunterlagenausgabe ist fast nichts los, die befürchtete große Warteschlange,
wie es sie im Vorjahr scheinbar gegeben hat, bleibt aus. So können wir es uns in
der Sporthalle, die als Gepäckdepot und Wertsachenaufbewahrung dient, gemütlich
machen. Ich esse meine kalten Spaghetti und unterhalte mich mit Alex. Wir
stellen fest, dass wir beide nicht so wirklich Lust haben, aber immerhin
verschwindet durch das Gespräch meine anfängliche Aufregung. Mein vor dem Lauf
angefertigter Zeitplan erinnert mich um 20 Uhr daran, mit dem Essen aufzuhören
und langsam anzufangen, mich zu richten. Um ca. 21 Uhr bin ich schließlich
fertig angezogen: ich entscheide mich für ¾ - Hose und T-Shirt, da eine trockene
Nacht mit 12 °C vorausgesagt wurde. Außerdem binde ich mir eine dünne Jacke um
die Lenden, deren Taschen ich mit Mütze, Imodium (für den -hoffentlich nicht-
Fall der Fälle), Taschentüchern, Handy und Lauflampe fülle. Zur Tempokontrolle
trage ich außerdem eine Pulsuhr mit Pulsgurt. Die empfindlichen Stellen in der
Leiste, zwischen den Zehen und Füßen reibe ich sorgfältig mit Vaseline ein. Bis
eine halbe Stunde vor dem Start trinke ich außerdem reichlich, bis ich
regelmäßig das Pissoir aufsuchen muss.
Ich lege mich in der Halle noch mal kurz hin und versuche, etwas Ruhe zu finden
(was mir nur leidlich gelingt), dabei beobachte ich die anderen Läufer. Ein
“Biel-Mittäter” erhält direkt neben mir noch eine Ganzkörpermassage kurz vor dem
Start, was mich dann doch etwas neidisch macht. Ein paar schaffen es, in dem nun
aufkommenden hektischen Treiben in der Halle auf einer Matte ruhig da zu liegen
und zu entspannen, andere laufen bereits jetzt nervös hin und her. Nach dem
Zähne putzen und dem letzten Klogang begebe ich mich schließlich in den
Startbereich. Alex musste schon eine halbe Stunde früher aufbrechen und darf
mich erst ab dem Ort Lyss, also km 22, begleiten. Ich dehne mich ein wenig und
mache es mir noch mal kurz auf dem nahe gelegenen Rasen bequem. “Hoffentlich
keine schweren Beine schon von Beginn an, dann hätte ich schon die halbe Miete!“
rede ich mir immer wieder ein.
Eine Minute vor dem Start reihe ich mich schließlich in die Mitte des
Starterfeldes ein, da ich schätze, in etwa 12 Stunden das Ganze bewältigen zu
können, wenn alles prima läuft auch in 11 Stunden oder schneller, wenn es
schlecht läuft, in 13 Stunden oder langsamer. Es herrscht hier eine relative
Gelassenheit, wie ich es von den City Marathons und Halbmarathons her überhaupt
nicht gewohnt bin. Der Sprecher interviewt den einen oder anderen Läufer und
redet im besten Schweizer deutsch vollmundig von der “Nacht der Nächte”; naja,
grübele ich unsicher, ob es wirklich zur Nacht der Nächte wird, wird wohl erst
der nächste Tag zeigen, denn auch dieses Jahr werden wieder ca. 20 % der
gemeldeten Starter das Ziel nicht erreichen und eher eine Albtraumnacht statt
der “Nacht der Nächte” erleben. Meine Unlust ist immer noch vorhanden. |
Hier bin ich noch guter Dinge und zuversichtlich
|
Start am Eisstadion:
Dann der Startschuss, das Feld setzt sich in Bewegung, es geht durch die Bieler
Innenstadt. Es herrscht kein Gedrängel oder hektisches überholen wie bei den
City Marathons, warum auch, die Nacht wird noch sehr lange werden.
Spätestens hier bricht bei mir der Damm und meine Motivation kehrt zurück: denn
die Stimmung, die das Bieler Publikum verbreitet, ist einfach gigantisch und
lässt mir einen kleinen Schauer über den Rücken laufen! Die nächtliche
Atmosphäre tut dabei ihr Übriges. Die ersten legen bereits bei km 2 die erste
Pinkelpause ein, manche telefonieren und berichten von dieser einzigartigen
Stimmung. Bei km 3,5 der erste VP, ich nehme nur ein Becher Wasser und laufe
weiter. Langsam aber sicher lichtet sich die Zuschauermenge. Etwa bei km 6
beginnt ein lang gezogener Anstieg, mit der steilste und längste Anstieg der
Strecke, laut Höhendiagramm 75 Höhenmeter verteilt auf ca. 2 km, wobei ich vom
Gefühl her behaupten würde, dass das ganze sich etwas länger hinzieht.
Ich laufe den größten Teil der Steigung, lege aber auch an ein paar besonders
steilen Stellen (wie einige meiner Mitstreiter auch) sicherheitshalber Gehpausen
ein, um ja nicht zu überziehen.
Ich komme ins Gespräch mit einem “Wiederholungstäter”, der Biel zum 2. Mal
läuft. Er erzählt mir, dass er Biel beim ersten Mal in ca. 12 h gelaufen ist.
Heute (wie beim 1. Mal auch) will er ausschließlich auf ankommen laufen, aber
ohne dabei leiden zu müssen, sonst steige er aus. Ich frage mich dabei kurz, ob
das überhaupt möglich ist und wie es mir dabei ergehen wird. Schließlich
verabschiede ich mich von ihm, als er beim Anstieg davonzieht. Km 10 erreiche
ich nach 63:15 min, liege also super in der Zeit und das trotz des saftigen
Anstiegs. Einer neben mir sagt was von wegen: das Tempo halten und wir bleiben
unter 10 h; ich meine daraufhin scherzhaft, dass wir nicht träumen sollten, der
Einbruch komme schon noch früh genug (ich sollte leider Gottes recht behalten).
Er antwortet mir lachend, ich solle nicht alles so schwarz malen und läuft mir
ebenfalls davon.
Hier, bei der Ortschaft Jens, befindet sich der 2. VP, bei dem ich mich zur
Belohnung ausgiebig versorge. Auf der hier gelegenen Anhöhe hat man einen
schönen Blick auf das Lichtermeer von Biel. Es geht weiter und immer wieder
tauchen ein paar Zuschauer auf, einer bietet mir auch ein Pils an, aber ich
lehne notgedrungen ab, was ein neben mir Laufender jedoch nicht tut.
Ich bin sehr guter Dinge, da sich meine Beine auch wirklich prima anfühlen. Nur
meine Fußgelenkschmerzen, die mich bereits während der Vorbereitung geplagt
haben, tauchen bereits hier unterschwellig auf, sie behindern mich zwar nicht,
aber wehe wenn das die Nacht über schlimmer wird… ich versuche mich abzulenken,
zeitweise gelingt mir das auch ganz gut.
Statt auf Asphalt laufen wir jetzt häufiger auf Schotter und Waldwegen. Es wird
nun immer dunkler und es ist Zeit für die Lauflampe, die ich in meiner
Jackentasche verstaut habe. Nach dem ganzen Trubel der ersten Kilometer herrscht
hier nun eine ziemliche Ruhe. Noch ist das Feld relativ eng beieinander, aber
die nächtliche Atmosphäre vermittelt doch ein wenig das Gefühl, einsam zu sein. |
Ich versorge mich bei einem Verpflegungspunkt. Das Angebot dieser
Verpflegungspunkte lässt in Biel nichts zu wünschen übrig, nur sind teilweise
die Abstände zueinander (bis zu 9 km) meines Erachtens etwas zu lang
|
|
(Fast) alleine durch die Bieler Nacht
|
Aarberg, einer der absoluten Höhepunkte der Strecke:
Bevor es anfängt, langweilig zu werden, taucht fast aus dem Nichts die
überdachte Holzbrücke bei Aarberg, km 17,5 auf. Hier ist wieder alles hell
erleuchtet und viele Zuschauer jubeln den Läufern zu. In Aarberg befindet sich
der dritte VP und meine Laune erreicht ein neues Hoch. Ich versorge mich wieder
mit 2 - 3 Bechern Wasser, einer Banane, ein Stückchen Brot und Bouillon. Bis zum
nächsten VP sind es 9 km, also eine lange Zeit bis es wieder etwas zu trinken
gibt. Nach Aarberg geht es weiter über viele Waldwege, ich freue mich schon auf
km 20, denn dann sind bereits ein Fünftel geschafft und es ist nicht mehr weit
bis Lyss, wo ich dann auf meinen Begleiter treffe.
Bei km 20 (65:40 auf den letzten 10 km) rufe ich Alex an und gebe ihm Bescheid,
dass ich ihn bald erreichen werde. Ich ziehe meine Reflektoren an, die ich als
Erkennungsmerkmal mitgenommen habe, und schaue mich in Lyss mehrfach nach ihm
um, es soll schließlich auch schon vorgekommen sein, dass sich Begleiter und
Läufer verfehlt haben. Uns passiert das glücklicherweise nicht und wir finden
uns auf Anhieb. Ab diesem Zeitpunkt habe ich nun noch mehr Abwechslung und ich
bin sehr zuversichtlich, mein erstes Zwischenziel, bis Oberramsern locker zu
laufen, auch zu schaffen.
Es geht wieder aus der Stadt hinaus und auf Waldwegen weiter. Es scheint ein
schöner dreiviertel Mond und die Temperaturen sind auch optimal, ich ziehe nun
meine Jacke aber doch an. Alex erzählt mir nun sehr viel von seinen Erlebnissen
auf dem Camino, doch leider kann ich seinen an für sich spannenden Geschichten
nicht immer folgen, da ich nun immer mehr Probleme mit meinen Waden bekomme, die
anfangen zu schmerzen. Au weia, und das jetzt schon! Ich versuche mir nichts
anmerken zu lassen, um Alex nicht zu beunruhigen und konzentriere mich mehr
darauf, den nächsten VP zu erreichen. Bei km 26,5 taucht dieser schließlich auch
auf und ich nehme mir etwas mehr Zeit zur Versorgung als zuletzt.Alex scheint
gute Laune zu haben und gibt sich Mühe, dies auch auf mich zu übertragen. Er
versucht mich mit positiven Aussagen zu ermuntern und zitiert mich ein paar Mal,
als ich in Lyss meinte, ich hätte super Beine. Ich sage ihm immer noch nichts
und meine nur, dass ich seinen Optimismus teile, wenn ich mein großes
Zwischenziel Oberramsern erreicht habe.
Ich denke in dieser Phase viel an die über Biel gelesenen Laufberichte. In einem
schrieb eine Läuferin, dass sie ca. bei km 30 schon aufgeben musste. Die
Betreffende hatte bis dahin bereits ein mittleres Martyrium hinter sich. Mit
mulmigen Gefühl passiere ich die km 30 Marke (66:26 h auf den letzten 10 km) und
bin froh, dass es mir im Vergleich dazu noch verhältnismäßig gut geht.
Bei km 31, 0 der nächste VP in Schemmenberg, die übliche Prozedur: 2 - 3 Becher
Wasser, Banane, Bouillon, evtl. noch etwas anderes dazu, die Auswahl ist sehr
reichhaltig: diverse Riegel, Gels, Brot, Wasser, Bouillon, Elektrolytgetränke,
teilweise Cola (von dem ich das ganze Rennen über aber nichts anrühre), Banane,
Orangen, Linzer Torten.
Erreichen des ersten Zwischenziels: Oberramsern (VP km 38,5):
Es geht weiter durch das Bieler Land, es ist nach wie vor stockdunkel und ich
denke nur daran, endlich Oberramsern zu erreichen, es macht mich schon etwas
unruhig, so fixiert habe ich mich auf dieses Zwischenziel. Nach einer subjektiv
langen Zeit taucht schließlich der VP Oberramsern bei km 38,5 auf, bestehend aus
mehreren Zelten und greller Beleuchtung, vielen Menschen in und um den Zelten,
was nach der langen Zeit des mehr oder minder einsamen Laufens fast schon wie
ein Schock wirkt. Hier hat man die Möglichkeit, sich bequem in einen Shuttlebus
zu setzen und gratis nach Biel zurückzufahren, von deren Angebot auch der ein
oder andere Gebrauch macht. Ich verweile hier nur sehr kurz, trinke 1 - 2 Becher
Wasser und laufe weiter, eine Massage lehne ich ab, habe auch den entsprechenden
Platz gar nicht auf die schnelle entdeckt. Hauptsache nicht so lange bleiben, um
am Ende doch noch auf die Idee zu kommen, auszusteigen.
Beim Weiterlaufen fällt mir ein kleiner Stein vom Herzen: die erste Hürde, der
erste Schritt von vieren ist getan, der längste “mentale” Abschnitt überwunden
und es geht mir noch soweit ganz gut, zwar nicht so wie erhofft, aber es ist ok.
Ich versuche mich nun auf die 50 km-Marke zu konzentrieren, die ich als nächstes
erreichen will, ab da ist ja dann (zumindest mathematisch) der halbe Teil
geschafft, auch wenn Teilnehmer (zurecht) immer wieder sagen, dass die Hälfte
eines 100 km Rennens bei km 60 liegt, die 2. Hälfte aber länger ist.
Weiter geht’s und wieder über Schotter und Waldwegen. Noch bevor ich das 40
km-Schild erreiche, kommt mir aus der Dunkelheit plötzlich einer der Läufer
entgegen und reißt mich aus meinen Gedanken. Oje, anscheinend ist Besagter auf
dem “Rückweg” nach Oberramsern, weil er sich vielleicht doch noch mal um
entschieden hat und aufgeben will?! Es bleibt ein Rätsel. Noch bevor ich diese
Begegnung “verdaut” habe, entdecke ich am Streckenrand in den Büschen einen
weiteren Läufer, der auf seinen Knien gestützt dasteht: scheinbar hat er sich
übergeben müssen und wartet auf die nächste “Ladung”; er hat mein tiefes
Mitgefühl, doch diese Erlebnisse zeigen mir auch gleichzeitig, dass ich bald die
Marathondistanz überschritten habe und hier das Rennen wohl erst so richtig
losgeht.
Aber noch merke ich nicht viel davon, im Gegenteil, seit Oberramsern fühle ich
mich sogar schon merklich besser, die Wadenprobleme sind zwar nicht einfach
verschwunden, haben sich aber so weit gelegt. Immer wieder geht es nun auch mal
bergan, die nächsten 75 Höhenmeter verteilt auf ca. 4 km, laut offiziellem
Höhendiagramm. Nach einer eher als eintönig empfundenen Strecke erreiche ich
endlich km 45 und mit ihm den VP Buechhof. Hier nutze ich eines der dort
aufgestellten Dixi Klos zu meiner ersten größeren Erleichterung. Das erste mal
seit über 5 Stunden, dass ich mal sitze, was für eine Wohltat!!! Doch bevor es
mir auf dem Klo zu bequem wird, raffe ich mich wieder auf, versorge mich kurz an
dem VP-Stand und laufe weiter. Ich war in gewisser Weise in Hochstimmung, denn
es war nicht mehr weit bis zur offiziellen Halbzeit des Rennens. Nur der
Powerriegel, den ich bei dem vorherigen VP probiert habe, liegt mir noch etwas
schwer im Magen.
Bis zur offiziellen Halbzeit zieht es sich dann doch länger als erhofft hin. Am
Streckenverlauf ändert sich nicht sonderlich viel: ich laufe überwiegend auf
Wald- und Schotterwegen, alles leicht bergauf. Unterbrochen wird das Ganze kurz
durch den VP in Jegenstorf bei km 48 oder hin und wieder durch Schweizer, die an
mehreren Stellen der Strecke den Freitagabend zum ausgelassenen Feiern in
Scheunen oder kleineren Festzelten nutzen. Als es mal wieder durch einen Wald
geht, befürchte ich fast schon, das ‘Halbzeit-Schild’ verfehlt zu haben, frage
auch eine andere Läuferin, die mir aber bestätigt, es auch noch nicht entdeckt
zu haben. Kurze Zeit später taucht es dann doch am Streckenrand auf, 72:27 min
auf den letzten 10 km, ich bin nun kontinuierlich langsamer geworden (bei km 40
noch 69:34 min), aber weiter guten Mutes, das ganze Unternehmen erfolgreich und
anständig zu bewältigen.
|
Der im Vorfeld befürchtete Tiefpunkt; ich muss leider eine von mehreren
Gehpausen einlegen. Bei keinem anderem im Vorfeld absolvierten Laufwettkampf
ging es mir derart schlecht als in Biel ab ca. km 70.
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Die schöne Bieler Landschaft… |
…kurz
nach Sonnenaufgang |
Aufatmen in Kirchberg und Laufen auf dem “Ho Chi Minh Pfad”:
Mit einem aufmunternden “Auf nach Kirchberg” zu meinem Begleiter gehe ich nun
die restlichen 6 km bis zum 2. großen Zwischenziel an. Bis dahin ereignet sich
weiterhin nicht mehr viel auf der Strecke. Ich werde lediglich immer
ungeduldiger, doch bevor ich durchdrehe, kommt schließlich ein großer, hell
erleuchteter Stand in Sichtweite - Kirchberg! Der 2. Schritt ist getan und ich
bin erleichtert, bis hierhin gekommen zu sein.Ich versorge mich kurz und beginne
bereits ein wenig Abneigung gegen den ganzen süßen Kram zu entwickeln,
vornehmlich gegen die Bananen und Riegel. Ich zwänge trotzdem eine Banane in
mich hinein und spüle es mit Wasser und Bouillon herunter. Ein Athlet neben mir
fragt mit ziemlicher Leidensmiene einen der Betreuer, ob es denn außer dem
Bouillon nichts Warmes im Angebot gibt. Leider haben sie nichts, kein Tee, kein
gar nichts, das einzige Manko an dem Angebot hier, aber ich versuche es mit
Gelassenheit zu nehmen.
Ich verabschiede mich von meinem Begleiter, da die nächsten 10 km für die
Radfahrer gesperrt sind, denn es geht nun auf den berühmt berüchtigten Emmedamm,
unter Läufern wird er gerne auch als ‘Ho Chi Minh Pfad’ bezeichnet. Von fast
allen Läufern wurde ich im Vorfeld gewarnt, diesen Pfad nur mit einer guten
Lampe zu laufen, da er aus dichtem Wurzelweg und spitzen Steinen bestehe. Dieser
Streckenabschnitt verspricht spannend zu werden, denn es heißt, wer diesen nicht
gelaufen ist, der ist nicht in Biel gewesen.
Einige können ihn zu diesem Zeitpunkt nicht mehr laufen. In Kirchberg besteht
die 2. Möglichkeit, auszusteigen und sich mit einem Shuttlebus zurück nach Biel
fahren zu lassen. Als ich vom VP wieder loslaufe, komme ich an einem der Busse
vorbei und widerstehe der Versuchung, mich zu den anderen Abbrechern
hinzuzugesellen. Mit einem etwas mulmigen Gefühl, aber an für sich in ganz guter
Verfassung, laufe ich weiter. Zunächst auf gutem Schotterweg, wodurch ich mich
zu dem Gedanken hinreißen lasse, dass das Ganze dann doch nicht so schlimm wie
beschrieben sein wird. Doch mit der Zeit wird der Weg immer schlechter und ich
muss höllisch aufpassen, nicht umzuknicken. Ich bin auf diesem Weg ziemlich
langsam, überhole zwei noch langsamere Läuferinnen, werde aber von mehreren
anderen überholt. Eine Frau hält sich immerzu den Bauch, doch sie läuft weiter
und scheint auf diese Weise zurechtzukommen.
Mir raubt dieser Weg zusehends meine Kraft, ein paar mal rutsche ich auf einem
der glitschigen, spitzen Steinen weg, zwei mal knicke ich mit meinem rechten Fuß
leicht um - jedes mal ein ziemlicher Schock und Adrenalinschub - da jedes
umknicken einen Bänderriss und damit das Aus bedeuten kann! Doch
glücklicherweise reiße ich mir nichts, stoße mich nur ein paar Mal schmerzhaft.
Irgendwie erreiche ich km 60 (71:25 min auf den letzten 10 km), das Schild steht
mitten “im Dschungel”. Es motiviert mich nicht, im Gegenteil: jetzt ist es noch
fast ein Marathon bis ins Ziel, und ich spüre förmlich, wie ich mit jedem
weiteren Schritt mehr und mehr abbaue und meine Kraft mich verlässt. Beinahe
verlaufe ich mich, doch einer der Streckenposten weist mir gerade noch
rechtzeitig den richtigen Weg. Ich scheine also auch im Kopf immer mehr
abzubauen. Fluchend laufe ich weiter, es dämmert bereits und ich bemerke, dass
ich mich nun in einer landschaftlich besonders reizvollen Umgebung befinde (von
der Wegbeschaffenheit einmal abgesehen): die Strecke verläuft entlang eines
wenig Wasser führenden Flusses und der Wald erscheint noch sehr ‘urwüchsig‘.
Später bekommen wir auch immer mal Nebelfelder zu Gesicht, ein sehr schöner
Anblick.
Ich halte Ausschau nach dem VP Uzens bei km 62,5, diesen kenne ich bereits aus
Bildern von anderen Laufberichten. Doch es dauert für meinen Geschmack wieder
sehr lange, bis ich ihn erreiche. Ich mache dort eine kurze Pause, habe aber
keinen Appetit, und trinke deshalb nur etwas Wasser und Bouillon. Eigentlich
wollte ich weiterlaufen, doch mein Enddarm meldet mir eindringlich, noch einen
außerplanmäßigen Boxenstop einzulegen. Ich frage mich zum Klo durch, wofür ich
dummerweise eine kleine Kletterpartie einlegen muss, um es zu erreichen. Was für
eine Tortur! Dort falle ich auf die Toilette und atme tief durch. Draußen tönt
Musik von AC/DC, die Stimmung unter den Leuten hier ist sehr gut und ich
versuche mich davon anstecken zu lassen, was mir aber nur mäßig gelingt.
Schweren Herzens raffe ich mich auf und laufe weiter, moralisch hilft mir der
Gedanke, dass ich bald wieder Unterstützung von meinem Radbegleiter bekommen
werde. Km 65: oje, jetzt noch 35 km, wie oft bin ich das in der Vorbereitung
schon gelaufen, doch nun fühle ich mich wie ein tiefgekühlter Hummer, wie ich
das nur durchstehen soll? Die Radbegleiter fahren nun wieder neben uns her. Auf
Alex Frage nach meinem Befinden gebe ich ihm diesmal wahrheitsgemäß Auskunft. An
dem VP Gerlafingen bei km 67 angekommen, stütze ich mich eine Weile auf meine
Knie, bringe aber inzwischen nichts mehr Festes runter, nur etwas Wasser und
zwei Orangen. Ich laufe weiter, es hilft ja alles nichts. Doch nun kommen zu
allem Übel auch noch Schmerzen dazu, die immer schlimmer werden.
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Es geht entlang der Aare, und mir nach wie vor nicht besser. Aber wenigstens
kann ich diesen schönen Streckenabschnitt trotzdem genießen. |
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Die Krise nimmt ihren Lauf:
Mittlerweile ist der Weg wieder asphaltiert. Gar nicht gut für meine Beine, wie
ich leider feststellen muss, es scheint nun alles zusammenzukommen. Km 70 (69:36
min auf den letzten 10 km): Alex versucht mich anhand des Umstands aufzubauen,
dass ich trotz allem ja immerhin noch am Laufen bin. Ein wartender Begleiter
habe ihm erzählt, dass sein Läufer im letzten Jahr ab dem Emmedamm nur noch hat
gehen können, wo hingegen ich da doch in deutlich besserer Verfassung sei und
noch laufe. Es motiviert mich ein wenig, aber mein Abbauprozess geht trotzdem
weiter. Es dauert nicht lange und ich erlebe nun endgültig eine richtige Krise:
alles unterhalb der Hüfte ist nur noch ein einziges, pulsierendes Schmerzknäuel,
das nun so schlimm wird, dass ich mittlerweile nicht mehr laufen kann, selbst
gehen fällt mir sehr schwer. Doch als ob das alles noch nicht genug wäre, trifft
folgender Spruch den Kern des ganzen: Wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt
irgendwo ne Steigung her. Die Steigung ist nicht sonderlich steil, aber in
meinem Zustand gleicht sie einem Mount Everest. Jetzt weiß ich auch, warum der
Lauf gerne auch als der “Everest der kleinen Leute” bezeichnet wird. :-)
In dieser Phase des Rennens ist mein Begleiter Gold wert. In einigen
Laufberichten beklagte sich der ein oder andere Läufer über die Radbegleiter,
die einem ständig vor die Füße fahren und letzten Endes keine wirkliche Hilfe
seien. Dies kann ich in keinster Weise bestätigen. Alex wird ab hier für mich zu
einer moralisch wichtigen Stütze. Er versucht mir klarzumachen, dass ich mich
von den Schmerzen nicht unterkriegen lassen soll und treibt mich an. Ich
versuche wieder anzulaufen, halte es aber nur ein paar Meter lang durch. Nun
werde ich von mehreren Läufern überholt, doch ich sehe ihren Gesichtern an, dass
auch sie zum großen Teil zu leiden haben.
Alles, was mich jetzt noch am Laufen hält, ist der VP bei km 73,5. Ich nehme mir
fest vor, hier mich kurz hinzusetzen und weiterzusehen, doch er will und will
nicht kommen. Ich verzweifele fast, frage noch mal bei Alex nach, ob der VP denn
wirklich bei km 73,5 und nicht vielleicht etwas später ist. Alex verneint dies:
Ichertswil ist tatsächlich dort. Das wirkt wie ein Schock für mich: von diesem
VP sind es noch gute 3 km bis nach Bibern, und ich habe ihn noch nicht einmal
erreicht! Ich halte immer wieder Ausschau, linse um jede Ecke und suche nach ihm
und werde jedes mal enttäuscht und immer verzweifelter. Der Anstieg hält nach
wie vor an, die Schmerzen sind unerträglich und es wird immer wärmer. In dieser
Phase entwickele ich meine ’Straßenschilder-Taktik‘: wenn ich eines sehe, fange
ich wieder an zu laufen und versuche, dies bis zu einem nächsten markanten Punkt
durchzuhalten. Dann lege ich wieder eine Gehpause ein, wobei in dieser Phase der
Gehpausenanteil deutlich höher ist.
Irgendwann höre ich auf nach dem VP zu schauen, mein Blick ist trostlos auf den
Asphalt gerichtet, ich nehme die Wiesenlandschaft, auf der vereinzelt friedlich
Kühe weiden, kaum mehr wahr. Dann, nach einer schieren Unendlichkeit, entdecken
wir einen Stand und, als ob es das Schicksal zum ersten Mal seit langem gut mit
mir meint, zwei Stühle samt einer Decke! Diese Aussicht verhilft mir, den Rest
zu laufen und ich falle kraftlos auf einen davon. Alex besorgt mir nur etwas
Wasser zu trinken, bei dem Gedanken an Essen wird mir übel. Er massiert mir ein
wenig die Waden, das hilft etwas. Am liebsten würde ich sitzen bleiben, doch die
Aussicht auf eine richtige Massage in Bibern holt mich schließlich aus dem Stuhl
heraus. Außerdem ist Bibern die dritte und letzte große mentale Hürde, die
letzte Möglichkeit, noch auszusteigen. Doch bis dahin sind es aber noch
verdammte drei lange km, die meisten davon leicht ansteigend. Normalerweise ein
Witz, und ich wundere mich selbst, weshalb dies mir solche Schwierigkeiten
bereitet, doch zu dieser Zeit des Rennens sind das subjektiv empfundene
unendliche Weiten.
Kraftlos laufe ich weiter und versuche, nicht an den langen anstehenden Weg bis
Bibern zu denken, geschweige denn die bis zum Ziel. Hätte ich das gemacht, hätte
ich vielleicht gleich aufgegeben. So trotte ich dahin, bei markanten Punkten
oder Schildern falle ich in einen langsamen Trabschritt, bei dem nächsten
ausgesuchten Punkt gehe ich wieder. Alex wird ein wenig ungeduldig, versucht
mich zum dauerhaften Laufen zu überreden, doch allein schon dieses Anlaufen
bereitet mir große Qualen. Wieder will der nächste VP einfach nicht kommen. Ich
erinnere mich an einen Laufbericht, bei dem sich ein Läufer darüber beschwerte,
dass die Schweizer schummeln und die km-Zahl nicht stimmen würde. In dieser
Phase glaube ich es auch und verfluche alle Schweizer auf einmal, doch diese
Gedanken helfen mir nicht weiter. Monotoner Blick auf die Straße. Dann, als ich
schon denke ich erlebe es nicht mehr, macht die Straße einen Knick und der
nächste VP ist erreicht. Es piept, als ich über die Zeitmatte laufe und mein
Schneckentempo registriert wird.
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Endlich in Bibern (VP km 76, 6) :
Hier ist eine große Reihe von Tischen mit Essen und Getränken aufgestellt, doch
ich rühre nichts an sondern suche vielmehr sofort die Massagebänke auf. In
einigen Berichten hieß es, dass es da teilweise lange Warteschlangen gab, doch
das nehme ich in meinem Fall in Kauf. Ich habe jedoch Glück. Die Massagebänke
befinden sich in einer Art Scheune und außer mir ist keiner da. Ich lasse mich
auf einen der Bänke fallen, ich bin fix und alle. Das Hochziehen meiner ¾ Hose
kostet mich viel Kraft. Die Massage ist für meinen Geschmack sehr kurz, viel
geholfen hat sie physisch gesehen auch nicht, aber zumindest mental baut sie
mich ein wenig auf. Ich bedanke mich, nehme mir einen Becher Wasser und laufe
weiter. Diesmal wartet eine “echte Steigung” darauf, von uns Läufern unter die
Füße genommen zu werden, die letzte in diesem Rennen: 50 Höhenmeter verteilt auf
2 km, die vor allem zu Beginn sehr steil ist und mir auch im ausgeruhtem Zustand
Mühe bereitet hätte.
Alex versucht mich wieder zum Laufen zu motivieren, doch angesichts dessen, was
mich erwartet, versuche ich gar nicht erst zu laufen, sondern beginne gleich zu
marschieren. Die meisten um mich herum machen das gleiche, nur vereinzelt joggen
ein paar wenige an mir vorbei und ernten dabei meinen ehrlichen Respekt, denn
dazu bin ich beim besten Willen nicht mehr in der Lage.
Als es etwas flacher wird, fange ich auch an ein wenig zu laufen, um nicht zu
viel Zeit zu verlieren.
Gerade noch rechtzeitig, bevor meine Beine drohen ganz den Geist aufzugeben und
abzufallen, erreiche ich den “Berggipfel”. Doch die Freude währt leider nur
kurz: gleich dahinter geht es nahezu doppelt so steil wieder hinunter, laut
offiziellem Höhendiagramm 100 negative Höhenmeter verteilt auf ca. 2 km.
Trotzdem nehme ich mir vor, die Bergabpassage zu nutzen, um ins “rollen” zu
kommen und ein wenig verloren gegangene Zeit wieder gut zu machen. Es schmerzt
ziemlich, aber es ist zum Glück nicht so schlimm, dass ich den Abstieg rückwärts
runter laufen müsste, wie ich es in manchen Berichten gelesen habe.
Langsam komme ich wieder in flacheres Gefilde. Nach dem langen Asphaltabschnitt
folgt nun wieder eine Passage mit Schotterwegen, und kurze Zeit später ist das
80 km Schild auch schon erreicht und ich habe sage und schreibe 99:07 min auf
den letzten 10 km benötigt! Das mag sicher an der längeren Verweildauer bei den
VPs sowie an den Anstiegen gelegen haben, doch die Zeit macht mich dann doch
etwas nachdenklich. Nun gut, sage ich mir, in der Sollzeit wirst du es schon
irgendwie noch schaffen, zur Not wandere ich bis zum Ziel, aber Hauptsache ich
finishe! Ich behalte die während des Laufes kreierte Taktik der
Lauf-/Gehabschnitte weiterhin bei und erreiche so bei km 81 den nächsten VP in
Arch. Wieder setzte ich mich hin und lasse mir von meinem Begleiter etwas Wasser
holen. Ein wenig Massage gibt es auch noch mal von seiner Seite, das muss ich
ihm bei Gelegenheit in irgendeiner Form zurückgeben. Schwerfällig bringe ich
mich wieder in die Vertikale und schleppe mich weiter, mein Laufstil muss zu
dieser Zeit als abschreckendes Beispiel für andere Läufer ausgesehen haben. Ich
schleppe mich müde an den Uferwegen der Aare entlang, ein für das Auge sehr
schöner Streckenabschnitt. Leider fängt es aber auch an, ziemlich warm zu
werden. Ich muss möglichst rasch ins Ziel kommen, sonst gibt mir die Hitze den
Rest. Wie langsam ich unterwegs bin, erkenne ich daran, dass die Frau, die ich
auf dem Emmedamm überholt hatte und die sich unentwegt den Bauch halten musste,
mich hier wieder überholt. Ich versuche schließlich mich an einen Läufer
dranzuhängen, der auf dem Rücken seines T- Shirts etwas von Laufverein Melbach
stehen hat, doch ich kann das Tempo nicht mitgehen und muss abreißen lassen.
Irgendwann auf dem Weg muss ich meinem Blasendruck nachgeben, doch ich bin so
fertig, dass selbst das zu einer anstrengenden Prozedur wird, die auch noch viel
Zeit kostet. |
Das Ziel rückt immer näher. |
Eine schmerzhafte Erkenntnis:
Ich laufe weiter und plötzlich taucht das 85 km Schild auf. Doch es motiviert
mich nicht, wird lediglich teilnahmslos zur Kenntnis genommen. Alex hingegen
versucht mir erneut Mut zu machen, und meint, ich solle lernen, den Schmerz zu
akzeptieren. Versuche nicht ihm auszuweichen, nimm ihn an und lebe damit. Ich
denke darüber nach, gebe mein Bestes und trete mir gedanklich in den Hintern. Es
muss gehen, den anderen um mich herum geht es mit Sicherheit auch nicht viel
besser und sind trotzdem noch im Laufschritt unterwegs. Also los, stell dich
nicht so an. Hier, genau hier entscheidet sich jetzt, ob du ein Ultraläufer
wirst oder besser weiterhin deine Popelstrecken läufst! Ich stelle fest, dass es
im Prinzip keinen allzu großen Unterschied mehr macht, ob ich nun laufe oder
gehe, weh tut es so oder so, aber wenn ich laufe, bin ich umso schneller im
Ziel. Ich versuche mir meinen Zieleinlauf bildhaft vorzustellen, so wie ich es
hunderte Male schon im Training getan habe. Jetzt habe ich die einmalige Chance,
es in die Realität umsetzen zu können, das für mich unglaubliche Szenario wahr
werden zu lassen! Fast unmerklich verlängern sich die Phasen, in denen ich nun
laufe, obwohl die Schmerzen genauso intensiv wie vorher auch sind.
Eine witzige Episode spielt sich kurze Zeit später ab: eine recht hübsche Frau
überholt mich, während ich gerade dabei bin, wieder in den Gehschritt zu
verfallen. In 3 Metern Abstand folgt ihr ein Mann, beim Überholen sagt er zu mir
etwas im Sinne von “da kannste doch nicht einfach gehen” und zeigt dabei in ihre
Richtung. Bei dieser Aussage muss ich zum ersten Mal während des Laufes richtig
lachen und denke mir “naja, eigentlich hat er ja schon recht” und verfalle
früher als geplant wieder in den Laufschritt. Und diesmal bleibe ich auch dabei,
ich akzeptiere den Schmerz, der unvermindert anhält und laufe einfach weiter,
ohne ihm auszuweichen. In meinen Gedanken rede ich mit dem Schmerz, als sei es
eine Person: “ja du bist da, aber ich kann mit dir leben, es geht”. Schmerz ist
der Weg der Selbsterkenntnis, und diesen Weg will ich gehen, muss ich gehen.
Diese Einstellung hilft und ich verfalle von da an nicht mehr in den Gehschritt.
Ich nehme mir nun vor, es meinen Vorbildern aus den Laufberichten und Büchern
gleich zu tun und deshalb laufe ich jetzt und gehe nicht bis ins Ziel.
Dieser Entschluss und seine Wirkung versetzen mich in gewisser Weise in eine Art
Hochstimmung. Ich beschleunige und überhole nun deutlich mehr als das ich
überholt werde. Bald darauf kommen wir durch den Ort Büren. An einem Café steht
ein Brunnen, an dem ich mich kurz erfrische. Ein paar Cafébesucher klatschen,
als wir Läufer vorbeikommen und ich ihnen zu verstehen gebe, dass ich ein wenig
Anfeuerung nötig habe. Wir kommen über eine Brücke und ich bin inzwischen schon
so schnell unterwegs, dass besagte Frau wieder in Sichtweite ist, doch da ich
bei dem nächsten VP bei km 87,5 eine erneute Sitzpause einlege, sehe ich sie von
da ab nicht mehr. Meinem Magen geht es inzwischen auch wieder etwas besser,
zumindest soviel, dass ich ein paar kleine Linzer Törtchen essen kann. Auch
trinken kann ich wieder deutlich mehr. Eine kurze Massage von Alex gibt es auch,
doch mein Unbehagen wächst, als ich auf einmal bei dem VP ein Schild mit 86,5 km
entdecke. Wie, ich dachte hier sei km 87,5, da dieser VP kurzfristig verlegt
werden musste, so steht es doch in den Unterlagen! Normalerweise ein Witz: was
ist denn schon 1 km? Doch hier hab ich das Gefühl, dass mich ein Pferd tritt. Es
gibt meiner Euphorie einen Dämpfer, als ich wieder aufbreche (später erfahre
ich, dass die Schweizer das Schild wohl aus Jux haben hängen lassen).
Ich laufe weiter und es wird wieder ländlicher. Während dem Laufen nehme ich mir
vor, mich von diesem Erlebnis nicht unterkriegen zu lassen und an etwas anderes
zu denken. Die Euphorie kehrt in einem noch viel größerem Maße zurück, als
unerwartet früh das km 90 Schild auftaucht! Die letzten 10 km in 83:23 min, der
Abwärtstrend ist also auch gestoppt worden. Ich küsse das Schild und bin nun zum
ersten Mal wirklich überzeugt, tatsächlich finishen zu können! Bei dieser
Erkenntnis steigen mir Tränen in die Augen, doch ich unterdrücke sie, da es
schließlich schon Läufer gegeben haben soll, die noch bei km 92 oder 94 aufgeben
mussten.
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Auf dem Weg zurück nach Biel:
Das herannahende Ziel macht mir nun in der Tat Beine. Auch der kurze
Schlussanstieg zwischen km 92 und 94 kann meine Freude nicht mehr trüben, im
Gegenteil, ich nehme die Steigung im Laufschritt und überhole noch einige
Läufer, u.a. den Melbach-T-Shirt-Kerl und die Frau, die sich den Bauch halten
muss (alle Achtung, dass sie es anscheinend trotzdem noch bis ins Ziel
schaffte). Als ich bei km 94 den VP in Pieterlen erreiche, bemerke ich beim
Blick auf meine Uhr, dass ich nun ungefähr wieder so schnell unterwegs bin wie
zur Mitte des Rennens auch, wie das sportmedizinisch möglich ist, ist mir
unerklärlich. Diese Erkenntnis macht mir weiter Beine, statt länger sitzen zu
bleiben wie üblich, nehme ich mir nur etwas Wasser zu mir und zum Erstaunen von
Alex laufe ich gleich weiter. Dann erreiche ich das km 95 Schild, ab hier wird
bis zum Ziel jeder Kilometer einzeln markiert, eine gute Motivationshilfe!
Nun geht es ausschließlich über Waldwege und mitten im Wald taucht der letzte VP
auf. Hier mache ich noch mal eine kurze Sitzpause, die Beine sind nun doch
wieder deutlich schwerer.
Ich genieße noch mal eine kurze Massage von Alex, und weiter geht es. Die
Kilometer ziehen sich zum Schluss dann doch quälender dahin als erhofft, aber
mit der Zeit lichtet sich langsam der Wald und der Weg führt nun auch aus ihm
heraus, unter einer Unterführung hindurch und über eine breite Straße, die für
uns Läufer halb abgesperrt wird. Noch einen kurzen Abschnitt die Straße entlang,
und das magische km 99 Schild erscheint. Wieder küsse ich es. Als ich neben dem
Schild für ein Bild posiere, ist dummerweise der Speicher der Kamera voll, aber
was soll's, diesen Moment werde ich auch ohne Bild mit Sicherheit nicht
vergessen!
Das Stadion kommt nun langsam in Sichtweite, die Lautsprecher tönen. Ich stelle
fest, das vor und hinter mir niemand in unmittelbarer Nähe läuft, also ein
perfekter, beinahe einsamer Einlauf! Ich biege in die Zielgerade ein, Zuschauer
klatschen und nun rollen mir wieder ein paar Tränen über das Gesicht. Der blaue
Teppich kommt, ich höre wie mein Name, Wohnort und Vereinsname von dem Sprecher
ausgerufen wird, und überquere die Ziellinie. FINISH! Ich habe es geschafft!
Nachdem mir der Lauf bereits seit so vielen Jahren im Kopf herumgespukt ist, ich
über 8 Monate lang viel Freizeit, Energie und äußerste Disziplin darauf
verwendet habe, erreiche ich das Ziel nach 12:12:20 Stunden. Ich brülle ein Jaaa
heraus und bin erleichtert. |
Beim Passieren des letzten Kilometers; ich habe es fast geschafft
|
…und es wurde schließlich doch die “Nacht der Nächte”: nach 8 Monaten und 2236,7
harten Trainingskilometern überquere ich überglücklich die Ziellinie in Biel.
Copyright zu diesem Foto:
www.alphafoto.com
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Im Ziel:
Im Zielbereich wird mir von den Veranstaltern gratuliert und bekomme den letzten
von 3 Kontroll-Stempeln auf meine Startnummer gedrückt. Ich setze mich auf eine
Bank und versuche nun meinen Tränen und Emotionen freien Lauf zu lassen, doch
ich bin nun zu fertig dafür, die Müdigkeit setzt ein. Nun ist auch Alex wieder
bei mir und beglückwünscht mich (die Fahrradfahrer durften nicht durch das
gleiche Zieltor fahren), er hatte einen wichtigen Beitrag am Gelingen dieses
Unternehmens geleistet.
Mühsam raffe ich mich von der Bank auf. Die Anspannung der letzten Tage ist weg,
aber der Lauf hat seine Spuren hinterlassen. Jeder Schritt schmerzt, und ich
hinke ein wenig. Ich verlaufe mich auf dem Gelände, als ich zu der
Klamottenhalle will. Doch nach dreimal Hin- und Herlaufen erreiche ich sie
endlich und hole mein Finisher-T-Shirt samt Medaille und Gravur ab, auf meine
erbrachte Leistung bin ich zum ersten Mal in meinem Leben sehr stolz. Draußen
vor der Halle sehe ich, wie eine Frau am Boden liegt und von vier, fünf anderen
Leuten umringt ist. Sie scheint kurz nach dem Lauf zusammen gebrochen zu sein,
jedenfalls stützt ihr einer den Kopf, ein anderer flößt ihr ein wenig Wasser
ein. Der Lauf fordert seine Opfer.
Nach einer anstrengenden Dusche hinke ich zur Massagestation. Ich muss jede
Bewegung bedächtig überdenken, denn sobald ich z. B. in die Knie gehe, beginnt
es in meinem hinteren Oberschenkelbereich mächtig zu krampfen. Bei der
Massagestation treffe ich auf andere Finisher, mit denen ich mich teilweise
angeregt unterhalte. Einer von ihnen stellt mir anstatt der nach Marathonläufen
üblichen Standardfrage “Bist du gut durchgekommen?” vielmehr die Frage: “Und,
wann bist du eingebrochen?”
Meiner Meinung nach ist dies sinnbildhaft für Rennen dieser Art. Anders als beim
Marathon kann man wohl einen Ultra nicht bis zum Ziel locker und ohne Tiefpunkt
durchlaufen, sondern jeder hat irgendwann auf der Strecke mit Problemen
verschiedener Art zu kämpfen, ob mit Krämpfen, Übelkeit, Durchfall oder
Schmerzen. Ausdrücklich loben möchte ich schließlich noch die tolle
Massagequalität in Biel. Anders als bei den bisher erlebten Citymarathons
erhielt ich hier eine sehr sorgfältige, über halbstündige Massage, die so
wirksam war, dass ich hinterher wieder relativ normal gehen konnte. Ich bin mir
relativ sicher, irgendwann wieder mal nach Biel zurückzukehren, denn die
Organisation und Atmosphäre vor Ort genießen nicht umsonst einen sehr guten Ruf.
Ein paar Zahlen/Daten/Fakten zum Schluss:
Zwischenzeiten: 4:11:36 h in Oberramsern (km 38,5), Zwischenrang 539.
6:19:13 h in Kirchberg (km 56), Zwischenrang 500.
9:01:54 h in Bibern (km 76,6 ), Zwischenrang 520.
Endzeit: 12:12:20 h, Gesamtrang 535 von 1090 gewerteten Teilnehmern.
Altersklassenwertung M20: Rang 23 von 62 gewerteten Teilnehmern.
Laut dem offiziellen Endergebnis bin ich der zweitjüngste Deutsche Finisher.
Am Morgen des 12. Juni wog ich 63 kg, am Morgen des 14. Juni 61,2 kg, bei einer
Körpergröße von 177 cm.
Bei den Männern gewonnen hat der Vorjahressieger Walter Jenni in 6:59:14
Stunden.
Bei den Frauen gewonnen hat Deborah Balz in 8:34:51 Stunden. |
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